Wagner, der Weise

■ Langfristig gewagt ist langfristig gewonnen: Das Theater Heilbronn zeigt regelmäßig israelische Stücke. Jetzt bringt es auch ein im Nahen Osten mißliebiges Stück heraus. Notizen aus einer beherzten Provinz

Eigentlich geht die Restrepublik davon aus, daß das in badisch-schwäbischer Grenzlage dümpelnde Heilbronn durch die Audi-Produktionsstätten wirtschaftlich abgesichert ist. Tatsächlich produziert der Konzern aber im benachbarten Neckarsulm. Und sollte Rot-Grün tatsächlich den ratenweisen Atomausstieg durchsetzen, hat das Städtchen in naher Zukunft nicht einmal mehr sein Stadtrand-AKW. Grund genug, aus Standortgründen entschieden auf die umliegenden Rebhänge sowie das ortsansässige Theater zu verweisen. Denn dieses unterscheidet sich auf den ersten Blick zwar nicht von anderen Provinzbühnen mit künstlerischen Profilierungsproblemen. In einem Punkt jedoch ragt es aus dem Spielplan-Einheitsmeer heraus.

Klaus Wagner, der mit seinen achtzehn Amtsjahren inzwischen wohl dienstälteste Intendant Deutschlands, bringt in Heilbronn seit Mitte der achtziger Jahre in jeder Saison ein israelisches Stück heraus. Und er hat es geschafft, sein kleinstädtisches Abonnentenpublikum sowie die Busladungen voll Besucher aus dem ländlichen Umland für diese Spielplangewichtung zu interessieren: Die israelischen Stücke werden genauso besucht wie die Klassiker.

Ausschlaggebend war dabei sicher, daß das Theater Heilbronn immer ganz vorne dabei war. Als eine der ersten Bühnen zeigte es Mitte der achtziger Jahre Joshua Sobols „Ghetto“ und holte mit Motti Lerners „Kastner“ 1988 zum ersten Mal ein auch in Israel umstrittenes Stück nach Deutschland. Umstritten insofern, als der „jüdische Schindler“ Rudolf Kastner mit Eichmann verhandelte, mehr als 1.000 Juden aus den KZs rettete, in Israel zum Kollaborateur gestempelt und 1958 von einem rechtsradikalen Fanatiker ermordet wurde.

Da das Theater Heilbronn neben diesen heiklen Stoffen auch das Verhältnis zu israelischen Künstlern pflegt und beispielsweise die Batsheva Dance Company für Europa entdeckte, kann es sich heute leisten, auch kritische Stoffe zu inszenieren, ohne gleich in die „Antisemitismus-Falle“ zu geraten. Gerade von einer Versöhnungstour mit Lessings „Nathan der Weise“ zurückgekehrt, in deren Verlauf die Heilbronner als erstes europäisches Theater sowohl in Israel als auch in Palästina auftraten, bringt das Theater jetzt am Samstag „Die Vergewaltigung“ zur Uraufführung, ein Stück des syrisch-palästinensischen Autors Sadallah Wannus.

Ein Stück auch, mit dem der im letzten Jahr gestorbene Wannus in alle Nahost-Fettnäpfe trat und die wichtigste Grundkonstante des israelisch-palästinensischen Konfliktes akzentuierte: Daß im Kampf um jeden Quadratzentimeter Boden sowohl palästinensische als auch israelische Traditionen und Machtinteressen aufeinanderprallen. Da Wannus die israelischen Figuren zudem als durchaus menschliche Wesen zeichnet, die an ihrem Dogmatismus zu zerbrechen drohen, kam „Die Vergewaltigung“ in Syrien über die erste öffentliche Generalprobe nicht hinaus. Im eigenen Land lagert das Stück im Giftschrank, während Wannus von Israel als Staatsfeind behandelt wurde.

Um das Stück zu verstehen, müsse ein Publikum dies alles aber gar nicht wissen, sagt Heilbronns Uraufführungsregisseur Johannes Claus. Alleine durch die Konfrontation mit archetypischen Gewaltverhältnissen in der Handlung könnten die Über-Lebensbedingungen von Menschen in Krisengebieten durchaus nachvollzogen werden. Außergewöhnlich ist die Hingabebereitschaft an derartige theatralische Auseinandersetzungen, die beim Heilbronner Publikum vorausgesetzt wird, aber trotzdem. Dergleichen würde man eher als Nebenschiene in einem großstädtischen Theater erwarten. Heilbronn kann ja nicht einmal auf ein studentisches Publikum zählen, und der zweckrationale Neubau aus den achtziger Jahren, der sich auf dem dortigen Berliner Platz fläzt, geht atmosphärisch auch bestenfalls als Stadthalle durch.

Das Ganze grenzt also an Wahnsinn, hat aber zweifellos Methode. Denn wahrscheinlich ist genau die Mischkalkulation des Heilbronner Spielplans das Erfolgsrezept, um auch im kleinstädtisch- ländlichen Raum Ehrgeiziges umzusetzen. Aufgrund eines stark reduzierten Etats funktioniert das Theater nicht als Dreisparten- sondern als Schauspielbetrieb mit Ballett- und Operngastpielen. Zu denen strömt das Publikum auf jeden Fall. Im Moment etwa gastiert die chinesische Beijing Dance Academy, und demnächst gibt es eine Musical-Eigenproduktion: Lessings „Minna von Barnhelm“, neu geschrieben von Michael Wildenhain und musikalisch umgesetzt von Konstantin Wecker!

Zum Spektakulären, Bunten wie zum obligatorischen Klassikerbetrieb mischt sich auch eine Autorenwerkstatt, in deren Folge es wie mit „Das siebte Siegel“ von Werner Buhss immer wieder auch zu abstürzenden Uraufführungsinszenierungen kommt. Aber mit der Autorenwerkstatt wie der Nahost-Schiene wird in Heilbronn für ein Theater dieser Kategorie auch lokalpolitisch einiges gewagt. Im Januar dieses Jahres war in der Deutschlandpremiere von Danon/ Levys „Scheindele“ beispielsweise zu erleben, wie eine junge Frau in einer religiös-fundamentalistischen Familie zugerichtet wird. Eine Erstaufführung, die für verschnupfte Reaktionen der jüdischen Gemeinde Baden-Württembergs sorgte. Der Landesrabbiner Joel Berger monierte eine einseitige Sicht auf religiöse Themen.

Mit der bevorstehenden Wannus-Uraufführung setzt man sich inmitten der aktuellen Auseinandersetzung um adäquate Formen des deutsch-jüdischen Gedenkens einer weiteren Gefahr aus: daß ein deutsches Theater nämlich antijüdischen Affekten Vorschub leistet, indem es Untiefen des israelisch- palästinensischen Konflikts auslotet. Auch der stellvertretende Intendant des Theaters, Andreas Oberbach, räumt diesbezüglich ein: „Ohne unsere fünfzehnjährige Auseinandersetzung mit Stücken und Themen aus dem Nahen Osten hätte ich es nicht als legitim empfunden, ,Die Vergewaltigung‘ auf den Spielplan zu setzen.“ So aber geht es. Nennen wir es das Heilbronner Kontinuitätsgesetz. Jürgen Berger

Premiere am Samstag: Sadallah Wannus, „Die Vergewaltigung“, Regie: Johannes Klaus. Theater Heilbronn