Musik hört und spielt man eben mit dem Herzen

■ Unglücklicherweise läßt der inszenatorische Aufwand die Schlichtheit der Botschaft um so deutlicher werden: Der philharmonische Musikfilm „Die rote Violine“von François Girard

Eine schöne Schwangere streicht sich über den geschwollenen Leib und singt ihrem Kind ein Schlaflied. Ihr Mann zertrümmert derweil in seiner Werkstatt die Geige, die sein Gehilfe gebaut hat: „Du bist wütend? Nutz die Wut, wenn du eine neue Geige baust.“ Wir befinden uns im Italien des 17. Jahrhunderts. Eine alte Frau sagt dem Kind eine aufregende Zukunft voraus: Reisen, Liebe, Krankheit, Ruhm. Doch dann sterben Mutter und Kind bei der Geburt. War die Alte etwa eine Lügnerin? Keineswegs. Sie hat das Kind nur mit Busottis bester Geige verwechselt. Es ist die Zukunft der Geige, die sie voraussagt.

Regisseur François Girard („32 Variationen über Glenn Gould“) erzählt die Geschichte der roten Violine vom 17. Jahrhundert bis heute mit einer hysterischen Anteilnahme, als folge er den Spuren der Callas. Sechs Geigen hat er bauen lassen, damit die Lackierung dem jeweiligen Grad der Abnutzung entsprach. Die Originalmusik, von dem Amerikaner John Corigliani extra für diesen Film komponiert, spielt der amerikanische Violinist Joshua Bell allerdings auf seiner Stradivari aus dem Jahr 1732.

Kenner müssen nicht befürchten, komplizierte Triller zu hören, während auf der Leinwand Laienhände eindeutig „Der Mond ist aufgegangen“ kratzen. Hier ist alles vom Feinsten. Zuerst landet die Geige in einem Kloster, wo sie von einem armen Waisenkind gespielt wird. Ein französischer Impresario holt den begabten Knaben nach Wien.

Für die Rolle der Waise hat Girard den fabelhaften 10jährigen Geiger Christoph Koncz engagiert. Wir sehen ihm beim Üben – schneller und schneller tickt das Metronom, bis es wie eine Nähmaschine rast. Jetzt ist der Junge reif für ein Vorspielen bei Hof. Noch bevor der erste Ton erklingt, fällt er tot um. Ein schwaches Herz.

Die Violine gerät in Zigeunerhände, die mit ihr vor blauen Buchten, schneebedeckten Gipfeln und Lagerfeuern im Wald lustig zum Tanz aufspielen, bis sie ihnen der Teufel abkauft. Der Teufel, das ist klar, ist ein Teufelsgeiger, hier Pope genannt.

Während das Publikum geduldig auf den Auftritt des Maestro wartet, schließt dieser in der Garderobe seine Geliebte in die Arme: „Ich fühle eine Komposition nahen“, seufzt er. Dann stehen wir mit dem Personal vor der Tür und lauschen rhythmischem Stöhnen und immer ekstatischerem Gefiedel. Später liegt Pope splitternackt in einem üppig mit Ananas und seidenen Kissen dekorierten Haus, die Geige zwischen die Schenkel gepreßt, der Bogen auf und nieder schwebend... Genau so haben wir uns die Übungsstunden von Paganini immer vorgestellt.

Schließlich befinden wir uns in China, wo die Geige nur knapp Schauprozesse und Kulturrevolution überlebt. Die Episoden werden etwas zäh durch wiederkehrende Szenen aus dem heutigen New York zusammengehalten, in denen die Geige öffentlich versteigert wird.

Girard hat „Die rote Violine“ mit klugem Aufwand erzählt. Das Instrument altert akkurat, das herzkranke Kind keucht befriedigend realistisch, der Film ist politisch korrekt in fünf Sprachen erzählt, die Musik spielt das London Philharmonia Orchestra, geleitet von Esa-Pekka Salonen. Unglücklicherweise läßt gerade der luxuriöse Aufwand die Schlichtheit der Botschaft um so deutlicher hervortreten: Musik hört und spielt man mit dem Herzen! Das hätte Justus Frantz auch nicht schöner sagen können. Anja Seeliger

„Die rote Violine“, Regie: François Girard. Mit Carlo Cecchi, Christoph Koncz, Greta Scacchi, Jason Flemyng, Samuel L. Jackson u.a. Kanada 1998, 130 Min.