Virtuelle Ökonomie

Zwei amerikanische Wissenschaftler warnen den Westen: Finanzhilfe für Rußland verschlimmert nur den Teufelskreis der dortigen Wirtschaft  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Warum sind Millionen von RussInnen bereit, monatelang ohne Gehalt zu arbeiten? Dieses und andere Paradoxa der russischen Volkswirtschaft versuchen zwei US-Wissenschaftler, der Politologe Clifford Gaddy und der Volkswirt Barry Ickes, in der renommierten Zeitschrift Foreign Affairs zu erklären. Ihr kurzweiliger Aufsatz heißt „Russias Virtual Economy“. Die Autoren wollen damit das westliche Denkschema bekämpfen, demzufolge Rußland seit Anfang der neunziger Jahre Fortschritte in Richtung Marktwirtschaft gemacht hat.

Gaddy und Ickes untermauern durch ein – wie sie zugeben – stark vereinfachtes, mathematisches Modell ihre Gegenthese: Die russische Wirtschaft hat sich vom Markt noch weiter fortentwickelt. Denn sie beruht auf einer phantastischen, völlig auf Illusionen gegründeten Übereinkunft zwischen ihren Mitspielern.

Eigentlich, so deuten die Autoren an, produziert die russische Industrie nur Schrott. Anstatt Werte zu schaffen, frißt sie sie auf: Ihre Endprodukte sind weniger wert als Strom, Arbeit und Rohstoffe, die deren Produktion erfordert. Den deklarierten Preis in Form von Geld einzutreiben, wäre nie und nimmer möglich. Es ist aber auch gar nicht nötig, weil Energielieferanten, der Staat und viele Arbeitskräfte sich mit Naturalien bezahlen lassen und dabei stillschweigend so tun, als seien die produzierten Waren viel mehr wert, als sie es in Wirklichkeit sind.

Der Statistik zufolge tätigten 1997 die größten Firmen Rußlands 73 Prozent ihrer Geschäfte mit nichtmonetären Zahlungsmitteln. Sie bezahlten zwar immerhin 80 Prozent der vom Staat geforderten Steuern, aber davon nur acht Prozent in Form von Geld.

Das Bild der virtuellen Ökonomie ist perfekt: „Eine Wirtschaft, in der Preise gefordert werden, die niemand mit Geld bezahlt, in der niemand irgend etwas pünktlich bezahlt, wo gewaltige gegenseitige Schulden geschaffen werden, die nicht in absehbarer Zeit beglichen werden können, ohne daß es zu Bankrottverfahren käme.“ Dies wiederum schafft die Illusion von „virtuellen“ Einkünften, die zu unbezahlten oder „virtuellen“ fiskalischen Verpflichtungen führen. Dabei produziert diese virtuelle Ökonomie sozialen Sprengstoff in Form von immer mehr Armut und jede Menge enttäuschter Erwartungen.

Der Teufelskreis der russischen Wirtschaft ist derart perfekt, daß sogar scheinbar erfreuliche Neuerungen in diesem System nur üble Folgen zeitigen können. Das Bruttosozialprodukt war 1997 zum ersten Mal seit Jahren leicht gestiegen – also, folgern die Autoren aus ihrem Modell, hatte die Industrie es geschafft, noch mehr Werte zu vernichten. Selbst wenn der Staat endlich die ersehnte Steuerreform durchführte, verlängerte dies doch nur die Lebensdauer des verhängnisvollen Antisystems.

Warum bestehen nun die russischen Unternehmen und Privathaushalte nicht allesamt lauthals auf Bezahlung in Geld? Weil, antworten die Autoren, sie sich nur noch durch Mitmachen bei dem bösen Spiel wenigstens ein fadenscheiniges soziales Netz weben können. „Keiner der Teilnehmer an der virtuellen Volkswirtschaft“, schreiben sie, „würde durch ihre Abschaffung gewinnen. Jeder Versuch, die Wahrheit über sie zu verbreiten, wäre äußerst unpopulär.“ Die Autoren deuten an, daß die erste Folge einer echten Marktreform in Rußland eine Art Apokalypse sein müßte: Bankrott fast aller Betriebe, die Einstellung aller Rentenzahlungen, Massenarbeitslosigkeit, Hunger und sogar Tod.

Gaddy und Ickes zufolge ist es die Furcht vor diesem Purgatorium, das die russischen Chefs veranlaßt, beide Augen zuzudrücken, wenn ihre Angestellten mehr Zeit und Energie in ihren Gemüsegärten oder in den Verkauf türkischer Anoraks an der nächsten Straßenecke investieren als in ihre offiziellen Jobs. Schließlich ermöglichen diese Aktivitäten das Überleben in der geldlosen Wirtschaft.

Der Westen mit seinen Überlegungen, wie Rußland am besten zu helfen sei, befindet sich demnach in einer Situation zwischen Scylla und Charybdis. Wenn die reichen Länder Rußland weiter finanziell unterstützen, zahlen sie damit nur „Lösegeld“ für die virtuelle Wirtschaft. Damit hindere der Westen Rußland geradezu daran, jemals auf einen grünen Zweig zu kommen, und öffne für sich selbst ein Faß ohne Boden. Falls aber die westlichen Länder jegliche Hilfe einstellen, käme es bald zur oben geschilderten Katastrophe.

Die beiden Autoren raten trotzdem zur letzteren Variante: „Der Westen würde den Russen damit die Nachricht senden, daß die Entscheidung, die sie in Hinsicht auf ihr Wirtschaftssystem treffen, ihre eigenen sind. Das Lösegeld zu verweigern ist nicht ohne Risiken. Wer aber die virtuelle Ökonomie in der Gegenwart auslöst, erhöht mit Sicherheit die Risiken für die Zukunft.“ Barbara Kerneck