Um Mitternacht ist Weltuntergang

■ Kurz vor der monströsen Zahl 2000: Zehn junge Regisseure haben sich für ein einzigartiges Filmprojekt den letzten Tag des alten Jahrtausends vorgenommen. Es sind entspannte Apokalypsen geworden (Start: heu

Wahrscheinlich ist es auch hier jedes Jahr dasselbe. Ein Gefängnis in Rio, das Gitter zerteilt das Feuerwerk am Silvestervorabend 1999 und „Opa“ ist ein armer alter Verrückter, der seine Zahlenmagie gegen die gnadenlosen Mauern brüllt: „Aus der Neun wird eine Null, aus der zweiten Neun wird auch eine Null, aus der dritten auch, aus der Eins wird 'ne Zwei – Alles ändert sich, alle vier Zahlen!“ In der nächsten Einstellung wendet sich „Opa“ dem Fenster zu: „Niemand bleibt mehr übrig die Geschichte zu erzählen, wenn aus den Neunen Nullen werden.“

Was machen mit diesem Tag? Wir wissen, daß sich nichts wirklich ändert, aber Wunsch und Angst und Zahlenspiel verheißen es dennoch. Was hatte man sich nicht alles vorgestellt! Und nun wird man auch 1999 nur wieder überlegen, wo noch ein einsames Landhaus frei ist, oder eine Metropole die größte Party des Planeten feiert. Seien Sie gewarnt, im letzten Jahr kommt uns der ganze Fin-de-siècle-Blues noch einmal ganz feste an.

„Niemand bleibt mehr übrig, die Geschichte zu erzählen...“ Vielleicht war es die gleiche Furcht, die die Pariser Produzentinnen Caroline Benjo und Carole Scotta 1995 auf die Idee zu einer einzigartigen Filmreihe brachte, die sie mit dem französischen Zweig des Kultursenders Arte realisiert haben. Vielleicht waren es die Zauber der Zwischenzeiten, die sich vor einem solch monströsen Datum auftun und die danach verschwinden werden, als sei am 31.12., null Uhr, tatsächlich Weltuntergang: Welche Situation in tausend Jahren rührt schließlich den Stoff für Geschichten so schön aus Verheißung, Furcht, Rückschau, Vision und viel vom grauen Brei der Banalität zusammen, wie der Countdown am Schluß?

Zehn junge Filmemacher zwischen 30 und 40 aus vier der fünf Kontinente haben daraus jeweils einen Film gemacht, der genau einer Vorgabe zu genügen hatte: Er sollte in der Nacht des 31. Dezember 1999 spielen. Es ist selten, daß ein Projekt mit solchem Aufwand – bei allen programmgemäßen Disparitäten – so viel gemeinsames in Haltungen und Aussagen hat. Da ist überall die lähmende Realitätsverwurstung der elektronischen Medien, da ist ständige Wiederkehr des Nichterreichens: in allen Filmen (außer dem deutschen) führt das Telefon in ein schwarzes Loch der Kommunikation, das man als Vorbote auf die Apokalypsen deuten kann, die da noch kommen: Überlastete Leitungen in Frankreich, ein mutwillig zerbrochenes Telefon in Brasilien, tote Computerdialogsysteme in Spanien, Vermittlungsprobleme in Ungarn, gekappte Telefonleitungen mitten in Belgien, falsch verbunden in den USA und überall, überall Anrufbeantworter. Niemand, so scheint es, bleibt mehr übrig nach diesem Tag, einem anderen von ihm zu erzählen.

Ab heute gibt es nun die Filme Freitag für Freitag zu sehen, und, was soll man sagen, sie lassen einen das große Ereignis mit leiser Gefaßtheit erwarten.

Alle zehn Filme schöpfen aus den Zaubern der Zwischenzeit und spielen mit dem Zwang, daß es die pure Bedeutung der Zahl aus dem Vorrat des Diesseitigen zu füllen gilt. Da sitzt Harry im „Frankfurter Kreuz“, einer Trinkhalle, und weiß nicht was machen mit dem Tag, außer zu saufen und räsonnieren, was aber jeden Tag so ist. Der Film von „Totmacher“-Regisseur Romuald Karmakar ist brillant inszeniert und mit strenger Liebe komponiert, aber was will uns Arte eigentlich damit sagen, daß es die insgesamt doch eher leise ironische Reihe heute abend mit diesem grüblerischen Kammerspiel aus dem deutschen Winter beginnen läßt? Ein Affe ist aus dem Zoo entwischt, ein trauriges Mädchen kommt vorbei, eine Ärztin hat Schicht und eine Hure Kummer – ein Kneipenabend ohne jede Hoffnung aber mit etwas Liebe, der schon eineinhalb Stunden vor Mitternacht mit dem unmißverständlichen Türschild „Privat“ endet.

Danach, im geheimnisvoll beginnenden französischen Film „Freiwillig verbannt“, fliehen ein paar Intellektuelle vor der „Herde von 4 Milliarden Volldeppen“ auf eine einsame Insel, wo sie alle Uhren und Radios einsammeln. Selbst am Ende der Welt herrscht aber die Banalität der feuchten Matrazen über die Größe des eskapistischen Vorhabens.

Und dann die Apokalypse: Auch in ihrem Angesicht herrscht die Banalität am Ende der Welt in Don McKellars wunderbarem Film „Die letzte Nacht“. Das Jahrtausend endet mit dem Weltuntergang, von dem man schon Monate weiß – zuvor aber wird es noch ordentlich zuendegebracht: Die Gaswerke rufen noch alle Kunden an, um sich bei ihnen zu bedanken, einer will noch mit einer Jungfrau ficken und um Mitternacht einen Orgasmus, eine Mutter will mit ihrer Familie sein, die Protagonistin will sich um null Uhr erschießen – andere gehen zum „größten Gitarrenjam aller Zeiten“. Angekündigt ist das Ende der Welt auch in Hal Hartleys formal und erzählerisch faszinierend mutiger Allegorie vom „Buch des Lebens“, wo Jesus am Silvesterabend auf die Welt zurückkehrt. Aber seine Mission beendet Jesus nicht und wirft den Laptop mit der Software vom Buch des Lebens ins Meer.

„Opa“ übrigens, der an die Magie der Zahlen glaubte, ist bereits vor dem Beginn des neuen Jahrtausends tot. Aber sein Zellengenosse in „Mitternacht“, dem betörenden Film des brasilianischen Berlinale-Gewinners Walter Salles (mit Daniela Thomas), der „Opa“ zum Schweigen bringen wollte, erlebt für die ersten acht Stunden den Neuanfang des Jahrtausends als eine Utopie zwischen Leben und Tod. Dann geht die Welt auch für ihn unter. Lutz Meier