Die Bilder der Völker im Brühwürfelformat

Sein Projekt war die Entzifferung der Fremde. Die Angriffe des Poststrukturalismus überstand Claude Lévi-Strauss, der Entdecker des „wilden Denkens“, mühelos. Der wissenschaftliche Schriftsteller und letzte Abgesandte der Republik des Geistes wird 90  ■ Von Walter van Rossum

Hinter den Wallungen der Poesie lauert der Code. Leider hat er nichts zu sagen. Die beiden Großmeister des Strukturalismus, Claude Lévi-Strauss und Roman Jakobson, haben einmal gemeinsam das Sonett „Die Katzen“ aus dem Zyklus „Die Blumen des Bösen“ von Charles Baudelaire untersucht. Am Schluß bleiben nicht das Schöne, nicht einmal das Böse, nur Schaltpläne von Zeichenfügungen, die lyrische Bedeutung erzeugen sollen: die ephemere Oberflächenstimme aus der Tiefe gleichgültiger Kombinatorik. In ihrem ratlosen Eifer ähneln die beiden dem Pathologen Virchow, der am Ende des 19. Jahrhunderts eine entmutigende Entdeckung machte: Tausende Leichen seziert und keine Seele gefunden.

„Eine Blume wird für schön gehalten, weil man bei ihrer Wahrnehmung einem Zweck begegnet, der sich auf kein Ziel bezieht“, schreibt Kant. 50 Jahre später entdeckt Baudelaire in der Nutzlosigkeit das Gift der Schönheit. Noch einmal 100 Jahre weiter zerlegt ein manischer Wissenschaftler die Aufregungen der Zivilisation, den Tumult der Kulturen wie einen alten Wecker in seine Bestandteile: Claude Lévi-Strauss dreht der Welt den Ton ab und entdeckt so die Natur der Kultur: Strukturen. Durch Kombination, Mutation, Evolution tausendfach vervielfältigt und variiert, spricht vom fernen Grund der Menschheit nur ein Text: der Code der Zivilisation. Das Leben lebt nicht. Es operiert nach Regeln, die Bedeutungen erzeugen, aber selbst nichts bedeuten. Die Stimmen aller Zeiten und Völker kocht Lévi-Strauss auf Brühwürfelformat zusammen: auf das gleichgültige und anonyme genetische Programm aller Kulturen.

Claude Lévi-Strauss' Lebenslauf begann beunruhigender, als seine Arbeiten nahelegen. Seinen Vater, einen einst erfolgreichen Kunstmaler aus wohlhabender Familie, plagen bald materielle Nöte. Und noch etwas überschattete seine Jugend: der Antisemitismus. Daß er neben Jura auch noch Philosophie studierte, deutete an, daß er lange Zeit nicht wußte, auf welche Kenntnisse er sein Leben gründen sollte. Am Ende war ihm die Philosophie näher. Mit dem Marxismus verband er die Hoffnung, Kopf der sozialistischen Partei zu werden. Simone de Beauvoir – ebenfalls 1908 geboren – lernte ihn 1929 kennen. „Er schüchterte mich durch sein Phlegma ein, doch er verwendete es mit Geschick, und ich fand ihn sehr komisch, wenn er mit farbloser Stimme und völlig unbewegtem Gesicht unserem Auditorium die Torheit der Leidenschaft auseinandersetzte“, schreibt sie in ihren Memoiren.

Die Ethnologie war eher einer eskapistischen Laune von Lévi- Strauss entsprungen. Die klassische Philosophie und der Lehrerberuf hatten ihn nicht sonderlich bewegt. Aber in jenen Jahren entstand zaghaft eine Soziologie der fremden Völker: die wissenschaftliche Ethnologie. In Brasilien entdeckte er in den unbekannten Völkern und fremden Kulturen seine wahre Leidenschaft: die Entzifferung der Fremde. Vier Jahre lang bereiste er die entlegensten Gebiete, erforschte Sitten und Mythen und wußte doch nicht genau, was er suchte. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Soldat in Frankreich emigrierte er 1941 nach New York, wo er eine Stelle an der „New School for Social Research“ erhielt. In den USA lernte er bald den Linguisten Roman Jakobson kennen. Dieser überreichte ihm eine Art Universalschlüssel zu den Funktionsweisen des Symbolischen: den Strukturalismus.

Der erste Satz seines berühmten Buches „Traurige Tropen“ (1956) lautet: „Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende.“ Der Strukturalismus hat ihn von der mühsamen Besichtigung entlegener Fremde befreit. Er ordnete die Fremde auf seinem Schreibtisch und bald vom Katheder des Collège de France, das ihn 1959 in seine heiligen Reihen berief. In seinen Büchern entstand nichts Geringeres als der Schöpfungsplan. Da Gott nur eine Mythe der Kulturen war, bot Claude Lévi-Strauss sich in aller Bescheidenheit als Vertreter an: der Chefkonstrukteur des Universalmenschen.

Verwinkelte Spezialkenntnisse machen noch keinen Weisen. Erst metaphysische Tragweite bringt den Ruhm des Denkers. Mit „Strukturale Anthropologie“ (1958) tritt der Strukturalismus über die Ufer eines Gebietes und überschwemmt die akademischen Sonntagsreden der Geisteswissenschaften mit dem Anspruch auf strenge Wissenschaft. Die Resultate lesen sich wie die Wurzel aus Luhmann multipliziert mit Adorno. Also gar nicht. Lévi- Strauss allerdings hält die Furie des Szientismus im Zaum einer unauffälligen schriftstellerischen Eleganz. Seine „Strukturale Antropologie“ – mit Bedacht nennt er seine Arbeiten nicht Ethnologie – zielt auf nichts Geringeres als den ganzen Menschen. Wer immer das sei, er ist jedenfalls der Todfeind des konkreten Menschen. „Die Wissenschaften vom Menschen lösen den Menschen als separate Realität unweigerlich auf“, schreibt er in „Das wilde Denken“ (1962). Und ausdrücklich gilt es aufzuräumen mit jenem „unerträglich verwöhnten Kind, das allzu lange hier die philosophische Szene beherrscht und jede ernsthafte Arbeit verhindert hat“. Und jetzt erst kann er Größeres ins Auge fassen – nämlich: „die Kultur in die Natur und schließlich das Leben in die Gesamtheit seiner physiko-chemischen Bedingungen zu reintegrieren“. Nur eines ist an diesem verwegenen Unternehmen deutlich: In ihm wiederholen sich alle Mythen abendländischen Großdenkertums. Und das Publikum dankt ihm auf Knien. Zwar bedroht der strenge Denker das Leben mit der Ausnüchterungszelle des Strukturalismus, doch er erspart dem konkreten Menschen das zermürbende und heillose Ringen um seine vergängliche Wahrheit. Wenn jeder Mensch die Ewigkeit des Menschen verbürgt, der seinerseits nichts als den gleichgültigen Code der Zivilisation bedeutet, dann dürfen wir uns den Tröstungen der Religionen nahe fühlen, die auch nicht mehr versprachen als ewige Zugehörigkeit zum göttlich geleiteten Rudel.

Ein langes Kapitel von „Das wilde Denken“ rechnet mit einem Parteigänger der Freiheit und Lüstling der Heillosigkeit ab: Jean- Paul Sartre. Nach dem Krieg hatte er eine Generation lang die diffuse Hoffnung verkörpert, es gäbe Auswege aus dem Unterwerfungsdenken des Abendlandes, das außer Göttern, ewigen Ideen, Maschinenmenschen, Vernunftreligionen und Geschichtsgesetzen wenig Beglückendes ersonnen hat. 1960 veröffentlicht Sartre „Die Kritik der dialektischen Vernunft“. Es handelt von den Prozessen der Vergesellschaftung, den Bewegungen der Geschichte und der Existenzweise von Gruppen und Kollektiven. Wenn es weder eine Vernunft noch eine Natur der Geschichte gibt – welche Kräfte und Handlungen formen sie dann? Wenn der Mensch frei ist, wer schnürt dann die Fesseln der Gesellschaft? Lévi- Strauss hat diesem Buch mit Unruhe entgegengesehen. Umsonst. Die Epoche, wo einigen die Freiheit nicht nur als zu stopfendes Loch im Logos erschien, war vorbei. Es begann die Ära des strukturalen Menschen. Seine Sphäre lag weit jenseits der aktuellen Geschäfte der Zivilisation, und wenn die Stunde der Metaphysik begann, beruhigte das ferne Rauschen universeller Strukturen den universellen Geist mit den Wonnen prästabilisierter Gleichgültigkeit. Und irgendwie verkörpert Lévi-Strauss – physikochemisch sozusagen – das laue Glück der von zielloser Hand codierten Strukturen: ein akademischer Experte, verläßlicher Denker ferner und folgenloser Gewißheiten. Mann ohne politische Abenteuer und ohne Affären.

Nun ja, man ahnt es, die Strukturen hatten ihre Zeit. In den 70er Jahren beerben die poststrukturalistischen Denker Lévi-Strauss. Die Fortschritte der Zeichentheorie machen vor nichts halt. Sie sägen an der Logik der Struktur, und exakt an der Stelle, wo die Strukturen die Einheit der Theorie und der Welt garantieren, errichten Derrida oder Foucault ihre neuen Dezentralen. Auf der Publikumsseite des Denkens – der metaphysischen Volksspeisung– ändert sich wenig: Universalanspruch und wilder Antihumanismus bleiben erhalten, und wer in sich den strukturalen Menschen schlummern fühlte, den wird auch nicht stören, daß „der Mensch“ jetzt so eine Art linguistischer Betriebsunfall geworden ist. Der Code stottert. In seinen letzten Veröffentlichungen hat Lévi-Strauss gegen eine solche Wendung seiner Theorie gar keine großen Bedenken angemeldet.

Nein, der poststrukturalistische Angriff auf Lévi-Strauss ist an anderer Stelle schiefgegangen: Er war in sich zu uneinheitlich. Vier oder fünf konkurrierende Großtheoretiker mit ähnlichen Anliegen erzeugen auf den unterschiedlichsten Gebieten äußerst unterschiedliche Argumentationsgänge. Das wurde dem Publikum zuviel. Und brauchte nichts Neues. Seitdem erhellt die Pariser Postmoderne nur noch die Mansarden des weltweiten akademischen Mittelbaus. Für den Rest der Welt ist Claude Lévi-Strauss der letzte Abgesandte aus der „Republik des Geistes“.