Inseln in der Zeit

■ Michael Koglins exzellentes Buch „Spaziergänge durch das jüdische Hamburg“

Ein Garagenbetrieb in der Poolstraße, Gewerberäume in der Rutschbahn, ein schlichtes Gartenhäuschen an der Elbchaussee – scheinbar ganz gewöhnliche Orte; man kennt sie oder kennt sie nicht und geht meist achtlos daran vorüber. Man übersieht sie und zugleich auch die Geschichte, die sie hervorgebracht hat und für die sie stehen: die jüdische.

Jüdische Geschichte, das heißt: jüdisches Leben in Hamburg. Gewiß, die verbliebenen steinernen Zeugen können nicht den Alltag der Juden an der Elbe deutlich werden lassen, doch sie sind wie Inseln in der Zeit – Orte, an denen sich religiöses, soziales, kulturelles Leben abspielte. Zwar fielen Hamburgs Synagogen der nationalsozialistischen Zerstörungswut zum Opfer, aber Tempel, Schulen, und Pflegeeinrichtungen blieben erhalten.

Das Gebäude einer Volkshochschule, ein ehemaliges Krankenhaus, eine Fachhochschule im Grindelhof: Lange Zeit blieben hiesige jüdische Stätten ihrer Geschichte beraubt, und nur selten geben Hinweistafeln knappe historische Informationen. Lebendig werden kann die Vergangenheit erst durch einen Vermittler, einen Dolmetscher: Michael Koglin hat die Schauplätze besucht, hat nachgeforscht und recherchiert und erzählt in seinem Buch die Geschichten von Häusern und Menschen, von Ereignissen und Entwicklungen.

Und der Autor hat viel zu berichten: von Eduard Kley, dem Tempelprediger und Oberlehrer, der sich für die jüdische Emanzipation einsetzte. Vom reichen Reeder Albert Ballin, dem wirtschaftlichen Berater des Kaisers, der sich im November 1918 aus Furcht vor der Revolution das Leben nahm. Vom Bankier Salomon Heine, der durch Spenden, Stiftungen und Zuwendungen bedürftige Juden an seinem Wohlstand teilhaben ließ. Von Mary Marcus, die viele Jahrzehnte lang die Israelitische Töchterschule leitete und moderne pädagogische Ansätze vertrat. Koglin macht deutlich, daß auch Hamburgs jüdische Geschichte maßgeblich die Geschichte kreativer oder couragierter, verantwortungsbewußter oder mächtiger Menschen ist – einige von ihnen sind uns heute bekannt, anderen muß ihr Platz auch in der umfassenderen Historie der Stadt erst noch eingeräumt werden.

Koglins Besuche der jüdischen Stätten führen tief hinein in Hamburgs soziale, religiöse, politische Vergangenheit. Er berichtet von vergessenen Lebensbedingungen, zeigt Zusammenhänge auf und gibt die nötigen Hintergrundinformationen. Und weil er das auf eine so lebendige und anschauliche Weise tut, wie es allein die Fassaden der Gebäude oder trockene Archivnotizen nicht könnten, sind seine erzählten Spaziergänge ein Lesevergnügen ersten Ranges geworden.

Kay Dohnke

Michael Koglin: „Spaziergänge durch das jüdische Hamburg. Geschichte in Geschichten“, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1998, 197 S., 29 Mark