Kein Stück vom Meer

■ Halbstundenglück: Martin Baucks' "Krumme Hunde" in Hannover uraufgeführt

Möwen schreien, und der Himmel ist rosa. Ein junger Mann sitzt an der Bar, ein alter am Tisch, und müde schlurft in braunen Perlons die polnische Kellnerin heran. Ja, so könnte ein Stück über das neue Deutschland beginnen: ganz im Norden und Osten und voll von Schwere und Hoffnung. Gleich käme ein Paar vom Strand herauf, gefolgt womöglich von einem leibhaftigen Dodo. Von Liebe wäre die Rede und dem Steuerfreibetrag, vom nächsten Jahrtausend und der Fähre nach Trelleborg. Es würde richtig Tag werden und Abend, es wäre traurig und lustig, und nach einer Stunde wäre es aus.

Vielleicht war es in dieser Richtung gemeint, was sich am Samstag abend im Schauspiel Hannover ereignete. Vielleicht nicht. Martin Baucks jedenfalls, der das Drama „Krumme Hunde“ geschrieben hat, kommt ebensowenig vom Meer wie Christian Stückl, der die Uraufführung inszenierte. Baucks ist 37 Jahre alt und kommt aus Hamm. Er ist Theaterwissenschaftler und Schauspieler, führt Regie und schreibt Stücke. „Krumme Hunde“ hat der Basler Theaterkritiker Reinhardt Stumm 1996 für die Autorentheatertage Hannover ausgewählt. Es ist eine Szenenfolge in der Tradition des poetischen Realismus, sprachlich ausschweifend und trotzdem eher ins Volkstückhafte gesägt.

Unter anderen treten auf: „Willi Harries, ein greiser Knabe aus Demin; Anna, seine Frau, eine aristokratische 62jährige aus Hinterpommern; Alfred, ihr autistischer Sohn“. Oder: „Mitzi, Willis tote Mutter; Robin, eine Existenz mit seinem Pudel Tobbi“ und „Doris, ein verkommener Transvestit“. Das volle Leben samt Zwischenreiche also soll es sein, vage lokalisiert „an einem Binnendeich“. Es beginnt an einer Tankstelle, wo sich Robin, die Existenz, und Willi, der greise Knabe, vor den Augen einer hasenschartigen Kassiererin küssen, und führt dann mehrfach über den Deich in ein 50er-Jahre- Wohnzimmer, durch ein Büro, eine Kammer und ein Krankenzimmer auf die Straße und in ein Hotel sowie eine Hafenbar.

Tankstelle, Hafenbar – eine 50er-Jahre-Wohnzimmerdampferstellenbar hat sich der 26jährige Stefan Hageneier als Einheitsbühnenbild für das Leben und Sterben am Rande des Deiches ausgedacht. In Eiskremrosa und Furnierbraun, mit einem zylindrischen Zentrum und elliptisch geschwungenem doppelten Dach. Es ist vermutlich die letzte Wohnzimmerdampferstellenbar für geschätzte 467 Kilometer, und sie ist schön.

Auch der 37jährige Christian Stückl, der als Oberammergauer Passionsspielleiter angefangen hat und bis 1996 Oberspielleiter an den Münchner Kammerspielen war, faßt Baucks Stationendrama eher als Drama der Endstation auf. Von der tapferen Nutte Renate bis zum verirrten Seemann hängen meist alle auf der Bühne rum, feilen Nägel, trinken Eierlikör oder starren Löcher in die Luft. Niemand hat mit irgendeinem etwas zu tun, aber alle müssen sich ertragen. Das ist eine schöne Spannung, die aus der Gleichzeitigkeit der Existenzen anfangs entsteht. Ein kollektives Fürsichsein, in dessen Mitte zwischen Sibylle Brunner als Anna und Hartmut Schories als Willi eine fast schon jenseitige Liebesbeziehung deutlich wird. Er krebskrank, sie verbittert, sprechen sie ohne sich anzusehen davon, daß sie sich nicht mehr ertragen können, und man weiß, daß sie nicht lügen, aber doch das Gegenteil wahr ist. Ein Paar wie bei Kroetz, doch kälter und fast ganz ohne Hoffnung, inmitten von Möwengekreisch und all diesem Rosa.

Eine wundersame erste halbe Stunde, da wir nichts voneinander wußten, die von weiteren vier halben Stunden gefolgt wird, in denen es nichts mehr zu sagen gibt. Im Tableauhaften der Eingangsszenen, zeigt sich, hat sich die Schnittstellenenergie des Personals unter Stückls Regie schon erschöpft. Der Rest sind Nummern. Im besten Fall anrührend wie der autistische Alfred (Martin Kemner), der am Bühnenrand einen riesigen orangefarbenen Teddybären knetet, im schlimmsten peinlich wie der Seemann (Thomas Mehlhorn), der im Blumenjackett und mit Sascha- Hehn-Grinsen unter all den Schiffbrüchigen Traumschiff spielt.

Die sprunghafte Geschwätzigkeit von Baucks' Text – hier wirkt sie nur noch verquast. Die Geschichte um Katastrophen-Willi, den ehemals selbständigen Handwerker und jetzt kranken Bankrotteur, der sich ausgerechnet mit einem Überschwemmungsschutz- Patent für klettbandverknüpfte Sandsäcke endgültig überschuldet – hier wird der dürr verästelte Entwurf gefeiert wie ein Fest. Nachdem sich Anna am Ende erhängt hat, schießt sich Willi in den Mund und wartet mit dem Sterben aber, bis ein Japaner auftritt und deklamiert, daß Willis zwangsversteigertes Patent – sinngemäß – in Japan so einschlägt wie die Erfindung des Tamagotchi. Dann fällt Willi um.

Das ist schlechte Kolportage, ist das mühsam zusammengeklaubte Passionsspiel eines hysterisierten unteren Mittelstands, ist lustloses theatralisches Greinen ohne Form und Distanz. Schade um die braunen Perlons und den orangefarbenen Teddy. Um den rosa Himmel und die Möwen. Ach. Petra Kohse