Für den Yen das Leben riskieren

Illegalen chinesischen Einwanderern werden von Mafiabanden professionell und für viel Geld gefährliche Jobs auf japanischen Baustellen vermittelt  ■ Aus Tokios Chinatown André Kunz

Ah Zhao trifft uns in einer kleinen Gasse neben dem Bahnhof Shin-Okubo im Schatten der Wolkenkratzer von Shinjuku. „Psst, kein Wort auf dem Weg“, raunt der drahtige Chinese und eilt durch verwinkelte Gäßchen zu einem baufälligen Arbeiterwohnheim aus den 60er Jahren. Das Neonlicht blendet, als Ah Zhao die Tür zu einem 15-Quadratmeter-Raum öffnet, in dem er mit drei chinesischen Kollegen seit einem halben Jahr haust. Möbel sind keine zu finden. Auf Tatami-Matten sind Futons zusammengerollt, die uns als Sitzgelegenheit dienen.

„Eine Abschiebung wäre das Ende für mich und meine Familie“, sagt Ah Zhao, als er uns Wulong- Tee in Plastikbechern reicht. Mit seinen drei Mitbewohnern, die wie er aus dem Süden der Volksrepublik stammen und sich in Tokio auf Baustellen und in Abwaschküchen verdingen, eint ihn die Angst, von der japanischen Einwanderungsbehörde aufgegriffen und abgeschoben zu werden. Denn damit müssen die rund 20.000 illegalen Gastarbeiter aus China täglich rechnen.

Ah Zhaos Reise begann Ende 1995 in der Stadt Fujian, als er in Anwesenheit von Mitgliedern der chinesischen und japanischen Mafia – den Triaden und der Yakuza – einen Vertrag unterzeichnete. Für eine Fahrt auf einem altersschwachen Fischkutter nach Japan willigte er ein, umgerechnet 40.000 Mark zu bezahlen. Ende März 1996 legte er von den Gestaden Fujians mit 16 anderen Chinesen ab, wechselte auf offenem Meer zweimal den Fischkutter, bevor er am 5.April an der Küste der japanischen Südinsel Kyushu landete. Die letzten 300 Meter mußte er an Land schwimmen.

Mit nichts anderem als einer durchnäßten Hose, einem Hemd, ein paar Turnschuhen und einer in Plastik gerollten 1.000-Yen-Note (umgrechnet 13 Mark) betrat er japanischen Boden. Am Strand wartete bereits ein chinesischer Landsmann, der ihn und seine 16 Kollegen zu einem Kühllaster für den Weitertransport nach Tokio führte.

Für Ah Zhao verlief der erste Reiseabschnitt glücklich. Andere Landsleute wurden dagegen schon bei der Landung von der japanischen Einwanderungsbehörde geschnappt. 1997 waren es 1.200 Chinesen, dieses Jahr dürften es sogar 1.500 werden. Dabei gehen der Polizei nur etwa ein Zehntel aller illegalen Einwanderer ins Netz, schätzt der japanische Autor Yasuro Morita, der regelmäßig über die Aktivitäten der chinesischen Untergrundorganisationen in Japan schreibt.

Tragisch verlief die Reise für eine Gruppe von chinesischen Frauen und Männern in einem Schiffscontainer im August. Sieben Frauen und ein Mann verdursteten auf der Überfahrt von der nordostchinesischen Hafenstadt Dalian nach Tokio. Acht weitere „blinde Passagiere“ standen kurz vor dem Tod. Doch abschreckend wirken solche Schicksale nur für Tage.

Japan bleibt in den Augen chinesischer Arbeiter das Traumland, wo mit fleißiger Arbeit innerhalb kurzer Zeit ein Vermögen zusammengespart werden kann. Nicht einmal die verschärfte Rezession in Nippon vermochte die Attraktivität für illegale Gastarbeiter aus China zu stoppen.

Doch spätestens in Tokio lösen sich die letzten Illusionen in Luft auf. Die Arbeiter sind auf Gedeih und Verderb dem feinmaschigen Netz des organisierten Verbrechens ausgeliefert. Ah Zhao und seine Kollegen befinden sich unter den Fittichen von Ah Wang, der als „Don“ von Shin-Okubo bekannt ist. Ah Wang ist auf den ersten Blick ein sympathischer Mensch. In Designerhemd und Jeans, den Laptop unter dem Arm und dauernd am Handy parlierend, sieht der 35jährige mehr wie ein professioneller Werber aus. „Ich bin Arbeits- und Wohnungsamt in Personalunion und biete zusätzlich Finanzdienstleistungen an“, sagt Ah Wang von sich. Nach zehn Jahren im Geschäft bleibt er vorsichtig. Vor dem Treffen müssen wir sämtliche elektronischen Apparate abgeben. Erst als die in seiner Büroschublade verschwinden, taut der „Don“ auf.

Der gebürtige Shanghaier öffnet seinen superflachen Laptop und erlaubt uns den Blick auf eine vorbildlich geführte Dateisammlung. Da sind mehr als dreihundert chinesische Gastarbeiter mit Handy-Nummer und Geheimname gespeichert. In einer zweiten Datei finden sich über hundert Adressen von kleinen und mittleren japanischen Baufirmen in der Region Tokio. Ah Wangs Adreßbuch stellt die Kartei eines mittelgroßen Konzerns in den Schatten. Die Anbieter jeglicher Dienstleistungen sind da akribisch vermerkt: Vermieter, die Illegalen eine Bleibe ohne Nachfragen bieten, Rechtsanwälte, die bei Lohnstreitigkeiten vermitteln, Untergrundbanken, die Geldüberweisungen an Familienangehörige in China besorgen.

Die Geheimdateien, die über ausstehende Schulden der Illegalen und ihre Hintermänner Auskunft geben, erwähnt Ah Wang stolz, will sie aber nicht zeigen. Handlich, so ein Laptop. Dessen Festplatte mit den wertvollen Daten hat der „Don“ mit einem roten Kreuz auf der Rückseite markiert. „An dieser Stelle über eine Tischecke gehauen, wird das Ding nutzlos für Ermittlungsbeamte“, erklärt Ah Wang den Sinn der Markierung.

Auch Ah Zhaos Daten sind auf der Festplatte gespeichert. Er muß noch fünf Monate malochen, bis er endlich sein Reisegeld von 40.000 Mark abgezahlt hat. Gegenwärtig arbeitet er täglich auf zwei Baustellen. Von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags auf einem Abbruch. Von sieben Uhr abends bis elf Uhr nachts verlegt er Gleise für eine neue U-Bahn-Linie. 250.000 Yen verdient er so pro Monat. Davon braucht er 100.000 für Miete und Essen. Der Rest ging bisher an die japanische Mafia, die ihm die Überfahrt besorgt hatte.

Ah Zhao hat sich zum Ziel gesetzt 10 Millionen Yen (130.000 Mark) zu sparen, bevor er an eine Heimreise denken will. Der 29jährige Vater von zwei Kindern will damit in Fujian ein Haus bauen und einen Werkzeugladen eröffnen. Doch davon ist er noch Jahre entfernt. Falls er so weiter arbeitet wie bisher, kann er frühestens im Jahre 2006 an die Rückfahrt denken – gesetzt den Fall, daß er nicht vorher ausgewiesen wird.

Dabei ist die Angst vor der japanischen Einwanderungsbehörde weniger schlimm als die Furcht vor der Yakuza. Die verdient mit den illegalen Arbeitsmigranten aus China mehr als eine halbe Milliarde Mark jährlich. Rechnet man noch die illegal vermittelten Studentenvisen für junge Chinesinnen, die in den Hosteßbars im benachbarten Kabukicho landen, dann verdient die Yakuza mit dem Schwarzhandel von chinesischen Illegalen rund 1,4 Milliarden Mark jährlich.

Ah Yin, ein Mitbewohner Ah Zhaos, zieht sein Hemd hoch und zeigt einen rot vernarbten Rücken. Er konnte eine Monatsrate seines Reisegeldes nicht pünktlich bezahlen und wurde eines nachts von drei jungen Chimpiras – Yakuzaneulingen – mit Hämmern traktiert. „Zahlst du nicht, dann töten wir dich und deine Familie“, drohten sie Ah Yin. Aus Angst um sein Leben nahm er am nächsten Tag eine sündhaft teures Darlehen auf, zahlte und erzählt die Geschichte seine Kollegen zur Abschreckung. Ah Yin wird drei Monate länger für die Mafia malochen müssen, um das neue Darlehen samt Zinseszinsen zurückzahlen zu können.

„Die Arbeitsmigranten ertragen jede Demütigung, nur damit sie dableiben und arbeiten können“, sagt Rechtsanwalt Akira Tsuchiya, der für die illegalen Chinesen bei Lohnstreitigkeiten vermittelt. Ein frustierender Job, weil Tsuchiya seinen Klienten immer zuerst erklären muß, daß sie in diesem Lande total ausgeliefert und rechtlos sind. Meist muß er den aufgebrachten chinesischen Arbeitern beibringen, daß es besser ist, ein paar Tageslöhne fahrenzulassen, als ausgewiesen zu werden.

„Sie sind jung, gesund, hochmotiviert und murren nur in seltenen Fällen“, sagt Tsuchiya. Solche Arbeiter sind in der japanischen Baubranche für sogenannte 3K-Jobs – „kitanai, kikkena, kizui“ (dreckig, gefährlich, hart) – auch in Zeiten der Rezession schwierig zu finden. „Warum werden wir dann beschissen?“ fragt Ah Zhao, dem in zweieinhalb Jahren rund 30 Tagelöhne vorenthalten worden sind.

Die Bauunternehmer selbst wissen oft gar nicht, daß auf ihren Baustellen illegale Gastarbeiter die gefährlichsten Jobs ausführen. Sie kennen nur Ah Wangs Handynummer, der in der Branche als „Konto“ – das mobile chinesische Arbeitsamt – bekannt ist. Tagelöhner zu prellen gehört zur Praxis in der Branche. Dagegen können sogar japanische Kollegen wenig tun, sagt Rechtsanwalt Tsuchiya. „Wer es aber übertreibt, kriegt eine Lektion“, gibt Ah Wang mit kalter Miene Auskunft. Wie Lektionen in diesem Milieu erteilt werden, zeigt der vernarbte Rücken von Ah Yin.

Das Schicksal der illegalen Gastarbeiter in Japan stand nicht auf der Agenda der Gespräche zwischen Chinas Staats- und Parteichef Jiang Zemin und Japans Premier Keizo Obuchi in der vergangenen Woche. Offenbar sind beide Regierungen mit dem Status quo zufrieden. Wenn es um illegale Einwanderer geht, sind die japanische Polizei und Justiz ohnehin auffällig zurückhaltend. Sie mischen sich nicht gerne in dieses „Schutzgebiet“ des organisierten Verbrechens ein und überlassen den Ordnungsdienst lieber der „Organisation“. Eingeschritten wird nur auf Anzeige hin, und gelegentlich genügt eine Razzia, um ein Exempel zu statuieren.

Die chinesischen Arbeiter wissen das zu schätzen. Denn trotz der harten Arbeit und der Abhängigkeit vom undurchsichtigen Netz von Hintermännern möchte Ah Zhao auf keinen Fall seine jetzige Situation gegen seinen früheren Job in Fujian tauschen. „Die Bezahlung ist 15mal besser hier, und ich habe das Gefühl, frei zu sein“, sagt er. Seine Zimmerkollegen nicken zustimmend, ziehen ein Mahjongtischchen und eine Flasche Shaoxing-Wein unter den Decken hervor und beginnen ein mitternächtliches Spiel. „Psst, weckt ja die Nachbarn nicht mit dem Lärm!“ warnt Ah Zhao.