Trauriger Antoine

Abstrahiertes Gefühl: das Erwachsenwerden des Doinel und andere Geschichten von François Truffaut im Fama-Kino  ■ Von Christian Buß

Antoine Doinel ist ein Bruder von uns. Was haben wir mit dem Typen gelitten, bis er dann irgendwann erwachsen war. Mitte 30 muß er da schon gewesen sein, aber bis dahin hat er uns auf Trab gehalten. Als er mit zwölf von zu Hause ausgerissen ist, sind wir mit ihm durchs nächtliche Paris geirrt, haben den Milchmann beklaut und uns in vereisten Springbrunnen gewaschen. Dann haben sie ihn in eine Erziehungsanstalt eingewiesen, und auch von da ist er abgehauen, ohne Atem zu holen, sind wir mit ihm bis ans Meer gelaufen.

Später dann haben wir noch mehr blöde Situationen erlebt: Wir hockten bei den Eltern des Mädchens, in das Antoine verliebt war, während es gerade von ihrem Freund abgeholt wurde. Nachdem er unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde, haben wir wirklich jeden Job ausprobiert: Nachtportier, Schriftsteller, Schuhverkäufer und sogar Privatdetektiv. Richtig gut lief nichts. Auch die Ehe nicht. Aber als wir Antoine zum letzten Mal gesehen haben, schien sich etwas zu ändern. Eine der letzten Szenen, die wir in Erinnerung haben, ist die, in der er mit dem ehemaligen Liebhaber seiner Mutter deren Grab aufsucht. Hier scheint Antoine seinen Frieden mit der Welt zu machen.

So wie François Truffaut selbst, der mit jener Szene eines der aufregendsten Unternehmen der Filmgeschichte beendet: 20 Jahre, von seinem Langfilmdebüt Sie küßten und sie schlugen ihn (1959) bis Liebe auf der Flucht (1978), hat er Antoine Doinel begleitet. Zu wieviel Prozent der fiktiv war, läßt sich nur schwer sagen. Zum einen steckt in ihm eine Menge vom Regisseur selbst, wie wir nicht zuletzt aus seiner üppigen Sammlung von Briefen wissen, bei dessen Lektüre geradezu ein Doinel-Abenteuer vor den Augen abläuft. Zum anderen ist der Hauptdarsteller Jean-Pierre Léaud immer mehr mit dem traurigen Antoine verschmolzen – in anderen Filmen, selbst denen von Truffaut, blieb er immer recht blaß. Ein anderes wichtiges Indiz für die „Echtheit“: Nur für seinen Doinel-Zyklus griff Truffaut nicht auf Romanvorlagen zurück, ansonsten bediente sich der Auteur gerne bei anderen Autoren.

Ein Leben unter den Augen der Kamera – was zur Zeit als unheilvolle Prophezeihung in Peter Weirs Truman Show zu sehen ist, erscheint bei Truffaut förmlich als erste Pflicht des Kinos. Wobei Intimterror durch einen Wechsel aus Nähe und Distanz verhindert wird und das Sentiment abstrahiert. Die Emotionalität wirkt nie erdrückend, weil Truffauts Erzählrhythmus einer eigentümlichen Dynamik gehorcht. Mal hechtet die Kamera dem einsamen Ausreißer bei seiner Flucht ans Meer hinterher, mal beobachtet sie den Erratiker aus einer extremen Oberperspektive, wie er über die Straße irrt.

Das Fama zeigt mit Geraubte Küsse aus dem Jahr 1968 und eben Sie küßten und sie schlugen ihn die beiden ergreifendsten Doinel-Episoden. Zwei andere Filme der bis in den Januar reichenden Reihe belegen, daß Truffaut, der innerhalb der Nouvelle Vague immer ein bißchen zu sehr als melancholisches Gegenstück zum Metaphysiker Godard gehandelt wurde, auch ein präziser Analytiker gewesen ist. Neben der so kunstvoll wie kühl ausgeleuchteten ménage à trois Jules und Jim (1962) ist auch noch einmal Die süße Haut (1964) zu sichten, den die ansonsten treue Truffaut-Gemeinde gerne verdammt. Doch die Liebesgeschichte zwischen einer Stewardeß und einem Literaturkritiker, zwischen Realitäts- und Lustprinzip gewinnt gerade durch ihre Kargheit. Die Stille ist enorm, das Verlangen kommt hier als großes Schweigen daher.

Sie küßten und sie schlugen ihn: heute und morgen: 22.15 Uhr. Jules und Jim : Fr, 11. + Sa, 12. Dezember, 22.15 Uhr. Die süße Haut: Fr, 18. + Sa, 19. Dezember, 22.15 Uhr. Geraubte Küsse: Fr , 25. + Sa, 26. Dezember: 22.15 Uhr, Fama. Die Reihe wird fortgesetzt.