■ Rot-Grün an der Macht (5): Warum man sich darüber freuen und trotzdem skeptisch bleiben sollte. Ein Blick aus ostdeutscher Perspektive
: Zeit, sich einzumischen

„Wir haben gesiegt“, schrieb Sybille Tönnies zu Beginn dieser Serie und fügte, Joschka Fischer und seine Mitstreiter vor Augen, hinzu: „Unsere Leute sind plötzlich ganz oben.“

Angesichts dieses unverhofften Erfolges müßte die Linke ihren eingefleischten Staatspessimismus überwinden und einen „vom Staat gelenkten New Deal“ initiieren. Darin konnte Klaus Walter nur einen unzeitgemäßen „Tribalismus“ erkennen. Der Rede in der ersten Person Plural entspreche längst kein gemeinsamer politischer Wille mehr, kein linkes Projekt.

Dirk Baecker traute den Grünen allenfalls einen ironisch-distanzierten Umgang mit der staatstragenden Rolle zu. „Alles andere, und das ist fast alles, steht nicht in ihrer Macht.“

Lothar Baier bestätigten die grünen Kompromisse in der Umwelt- und Energiepolitik samt der „Boot ist voll“-Rhetorik des sozialdemokratischen Innenministers nur in seiner mitgebrachten Skepsis.

Ich sympathisiere mit den Vorstellungen von Tönnies, beurteile deren Verwirklichung aber ähnlich zurückhaltend wie ihre Kritiker. Mein Zutrauen in eine neue Politik krankt an meinem Glauben an den Willen und an die Kraft der Gesellschaft, sie durchzusetzen. Die politische Skepsis hängt mit meiner ostdeutschen Erfahrung zusammen, die gesellschaftliche mit meiner gesamtdeutschen nach 1989.

Politik fand im Osten Deutschlands unter Ausschluß der Gesellschaft statt. Die Gewöhnung an diesen Zustand wirkte entmutigend, aber auch ernüchternd. Gerade weil es unerträglich war, tagtäglich die abstrusesten Verdrehungen und Lügen ohne Widerspruchsmöglichkeit anzuhören, kam niemand auf die Idee, eine Wende zum Besseren von oben zu erwarten. Eine neue Politik konnte nur das Werk der Gesellschaft sein.

Bis zum Beweis des Gegenteils scheint mir dieser Grundsatz auch für den Umgang mit demokratischen Regierungen angemessen.

Um so mehr, als die Demokratie im Osten Deutschlands auf höchst widersprüchliche Weise Einzug hielt: Sie stärkte den politischen Sinn, und sie schwächte den sozialen. Im selben Augenblick, als sich die Gesellschaft organisierte und artikulierte, begannen sich die einzelnen Gruppen, Vereine, Verbände und nicht zuletzt die Individuen zu fragen, ob sie nicht zunächst an sich und erst dann an die anderen denken sollten.

Sie taten das nicht aus freien Stücken, sondern unter dem Zwang der Umstände und unter massiven Einflüsterungen. Politiker, die publizistische Öffentlichkeit, neoliberale Wissenschaftler und Intellektuelle nahmen den Bankrott des Staatssozialismus zum Anlaß eines Feldzugs gegen „Kollektivismus“, „Besitzstandsdenken“ und „Versorgungsmentalität“ und riefen zu mehr „Eigeninitiative“ auf, zu privater Daseinsvorsorge und Risikoprävention.

Die ängstliche Sorge, in gemeinschaftliche Kassen einzuzahlen und dabei womöglich von unbekannten anderen übervorteilt zu werden, wirkte wie ein Gift, das nicht nur den autoritären Korporativismus der DDR-Gesellschaft zersetzte, sondern auch dessen solidarischen Kern. Auch demokratisch legitimierte Regierungen, war die Lektion, wissen Angst, Neid und Mißgunst zu schätzen und zu schüren.

Dennoch oder gerade deshalb: Der Regierungswechsel vom September dieses Jahres wirkte befreiend.

Der schamlos „Mut zur Reform“ genannte Antireformismus verschwand aus der politischen Rhetorik; einige besonders anstößige Antireformgesetze kamen umgehend auf die Streichliste; der Sozial- und Wohlfahrtsstaat wird nicht länger von den Regierungsbänken verächtlich gemacht, die Bundesbank gemahnt, Beschäftigung und Wachstum mit gleicher Leidenschaft zu fördern wie die Währungsstabilität; die längst fällige gesamteuropäische Abstimmung der Steuer-, Zins- und Arbeitsmarktpolitik rückt in einem sozialdemokratisch dominierten Europa ihrer Verwirklichung näher.

Wenigstens auf der europäischen Bühne könnte der Globalisierung wieder ein politischer Gegenspieler erwachsen. Das politische Deutschland nach der Wahl gefällt mir erheblich besser als das davor.

Wenn sich meine Hoffnungen nichtsdestoweniger in engen Grenzen halten, dann liegt das an der bundesdeutschen Gesellschaft. Ist sie wirklich handlungsfähig?

Man vergleiche den massenhaften Protest französischer Arbeitsloser mit dem eher tröpfelnden ihrer deutschen Schicksalsgefährten oder das militante Aufbegehren französischer Studenten und Schüler mit dem braven Ungehorsam ihrer hiesigen Altersgenossen, und man weiß, was man ahnte: Die deutsche Gesellschaft ist vielleicht auf dem Weg zu einer Aktienkultur; von einer ernst zu nehmenden politischen Streitkultur ist sie meilenweit entfernt.

Zwischen der ganz erstaunlichen politischen Vernunft des Wahlvolkes und der effektiven sozialen Macht der Bürgergesellschaft klafft eine bedenkliche Lücke. Fast scheint es, als seien die einzelnen klüger und mutiger als der soziale Körper, den sie miteinander bilden. Das Ganze erschrickt vor der Courage seiner Teile und verharrt in hergebrachter Fraktions- und Standespolitik.

Die gesellschaftliche Lethargie verweist auf das eigentliche Problem des jüngsten Regierungswechsels. Gerade die Tatsache, daß die neue Riege aus dem linksliberalen Milieu der alten Bundesrepublik hervorgegangen ist, könnte lähmend und einschläfernd wirken. Man regiert nunmehr vermittels der eigenen Leute, statt von einem Personal regiert zu werden, das politisch und kulturell ganz andere Traditionen verkörpert. Das ist vielleicht nicht alles, was man wollte, aber doch besser als nichts.

Tatsächlich?

Mir scheint das Gegenteil am Platz – Härte gegenüber den vermeintlichen Verbündeten im Amt, energisches Nachsetzen.

Wenn Öffentlichkeit und Gesellschaft sich nicht bald zu eigenständiger politischer Größe aufschwingen und die neuen Regierenden unerbittlich vor sich hertreiben, wird es nämlich bei dem alten Kopfstand bleiben, daß sich die Macht immer nur die Regierungen wählt, die zu ihr passen, daß nur die Kräfte in Regierungspositionen gelangen, von denen eine Erschütterung der Machtverhältnisse nicht zu erwarten ist.

Die Zeit des Abwinkens ist vorbei, glücklicherweise; die Zeit der gesellschaftlichen Einmischung ist angebrochen. Nur hat das, scheint's, noch niemand bemerkt. Wolfgang Engler