Alltag aus halber Nähe

■ Angela Schanelecs "kleines Fernsehspiel" erzählt seine Geschichte, als könnte es genausogut unsere sein ("Plätze in Städten", 0 Uhr, ZDF)

Die Handlung ist schnell erzählt. „Mimmi ist neunzehn und steht kurz vor dem Abitur. Auf einer Klassenfahrt nach Frankreich lernt sie einen Mann kennen und verbringt eine Nacht mit ihm. Zurück in Deutschland stellt sie fest, daß sie ein Kind erwartet. Sie macht sich erneut auf den Weg nach Paris.“

Klingt nicht gerade vielversprechend. Doch trotzdem war „Plätze in Städten“, Angela Schanelecs erster Langfilm, eine der wenigen echten Überraschungen bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes – und das nicht nur, was den deutschen Film angeht, sondern überhaupt. Angela Schanelec, die an der Berliner Film- und Fernsehhochschule studierte, hat „Plätze in Städten“ mit dem „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF realisiert, das passenderweise über eine Reihe „Menschen in Städten“ verfügt. Von Mainz nach Cannes ist es weit, doch auf dem Festival schien „Plätze in Städten“ die Wiedergeburt des neuesten deutschen Films aus dem Geist der Nouvelle vague zu sein.

Ein ganzer Film aus der Halbtotalen. Nie kommt die Kamera den Figuren zu nahe – statt dessen verharrt sie abwartend im halbnahen Bereich. Mit geradezu fassbinderscher Halsstarrigkeit guckt die Kamera stur gerade aus. Es scheint ihr ganz egal zu sein, ob im Off gerade etwas Wichtigeres passiert. Dagegen hat sie alle Zeit der Welt für das, was sie im Moment interessiert. Zum Beispiel, wie Mimmi Brot schneidet – wobei der Schneidevorgang selbst gar nicht im Bild ist. Oder wie Mimmi mit ihrem Fahrlehrer im Bett liegt, zwei Minuten lang, unbewegt, ungeschnitten.

Es ist eben alles eine Frage der Einstellung. Wenn Mimi im Schwimmbad mit ihrer Freundin zu Joni Mitchells „California“ tanzt, wartet die Kamera selbstverständlich höflich, bis das Lied zu Ende ist (welcher Plattenaufleger tut das noch?). So dauert es eben seine Zeit – nämlich zwei Stunden – bis alles erzählt ist.

Zwei Stunden, sagt Angela Schanelec mit Recht, seien aber immer noch eine sehr kurze Zeit, um einen Menschen kennenzulernen. „Ich dachte, daß es darum geht, jemandem zuzusehen, den man nicht kennt, von dem man nichts weiß.“ Und dabei sei es wichtiger, Mimmi verstehen zu wollen, als sie zu verstehen. Die Kamera ist daher immer Zuschauerin, nie Akteurin. Eine Kamerafahrt gibt es nicht. Dafür gibt es Fahrten mit anderen Verkehrsmitteln: Auto, Bus, U-Bahn.

Der Titel „Plätze in Städten“ läßt zunächst eher eine Reminiszenz an Alexander Kluges „Brutalität aus Stein“ vermuten, als an einen klugen Film aus der Halbdistanz über das Leben einer jungen Frau in zwei Städten, Berlin und Paris.

Wenn man mit Schanelecs Blick auf sie schaut, fragt man sich, wieso hier so leicht gelingt, was anderswo so inszeniert wirkt: Alltäglichkeit zu zeigen. Manchmal ist sie grau wie Beton, manchmal auch hellgrün wie die Kacheln in Mimmis Bad. Wenn Mimmi sich die Zähne putzt, sieht es fast aus, wie in unserem eigenen Badezimmer zu stehen. Wenn sie an der Bushaltestelle einen Freund küßt, sieht man ihr aus naher Ferne dabei zu. Es geht einen nicht richtig etwas an, aber man bringt es auch nicht fertig wegzugucken.

„Plätze in Städten“ ist ein fotografischer Film, der einen ausgeprägten Stilwillen zeigt – und den Betrachter dazu bringt, dem Film mit einer ähnlich konzentrierten Distanziertheit zuzusehen, wie Schanelec ihrer Heldin. Die Regisseurin verlangt vom den Zuschauern, daß sie sich Zeit nehmen fürs Hinsehen. Ihren Film kann und soll man nicht konsumieren. Das ist faszinierend. Ob diese Faszination auf Dauer trägt?

Wer Filme macht, muß verführen wollen. Kompromißlosigkeit ist nur eine Zeitlang charmant. Kompromißlose Verführung aber ist auf Dauer schwierig. Wer wahrgenommen werden will, muß sich nähern: Halb zog sie ihn, halb sank er hin, sagt man. Angela Schanelec macht es halb hinreißend. Möglicherweise ist auch das das Faszinierende. Axel Henrici