Nirgends Schweigen

Zu Gast im Haus der Fama: Hans-Joachim Neubauers wundersame Geschichte(n) des Gerüchts  ■ Von Erhard Schütz

Lust am Oral Office und Empörung über Massaker: Liebe und Krieg sind Treibhäuser des Gerüchts. Lange Zeit, vor Mikrowelle, Pizza-Pipelines und Plonto- Chinesen, war die Küche seine Wärmestube, dort, wo Liebe oder Krieg durch den Magen gingen oder auf ihn schlugen. Heute, will man den Monica-Watchers und Bill-Gate(s)keepern glauben, ist es der Raum, der sich nach dem Einwählen ins Netz auftut.

Das Gerücht, von Kommunikationsexperten eher als informatorische Anomalie betrachtet oder als „Aussage mit thematischem Bezug, die ohne offizielle Beglaubigung verbreitet wird“, diskriminiert, ist, recht besehen, doch Plasma von Kommunikation, eine höchst prominente Form von Vergesellschaftung: Wir alle sind das Gerücht. Das Gerücht ist das Lebenszeichen des „man“. Die Gerüchte, unterwegs im Schwarm des Hörensagens, bewegen sich durch alle Medien, vorzugsweise aber die flüchtigen, die ihr Unterwegs begünstigen: kaum aufgenommen und schon wieder weitergereicht. Nicht zufällig haben darum die amerikanischen Experten im Zweiten Weltkrieg aus dem Katalog der zum Dementi von Gerüchten geeigneten Medien das Radio kategorisch ausgeschlossen. Das Gerücht ist unabhängig von positiven oder negativen Vorzeichen, von Sach- und Wahrheitsgehalt. Was sich am Hörensagen beobachten läßt, ist nie das Ereignis, sondern das Hörensagen, Zeuge ist man stets nur des Geredes, nie des beredeten Anlasses.

Was läge näher, als eine Geschichte des Gerüchts aus Anekdotischem zu sampeln. Etwa vom „Märtyrer des Gerüchts“ zu erzählen, von jenem Hafenbarbier, der 413 v. u. Z. von einem Kunden die Kunde von der vernichtenden Niederlage der athenischen Flotte vor Syrakus erhielt, sich eilends mit seiner Neuigkeit aufmachte, aber für die exklusive Meldung nicht gefeiert, sondern gefoltert wurde – eine früher gern geübte Art der Quellenkritik. Oder von Hugo Münsterberg zu berichten, der sich vergebens dagegen wehrte, daß ihm die Erfindung des Lügendetektors angedichtet wurde. Neubauer erzählt solcher Anekdoten viele. Doch bleiben sie an den roten Faden gebunden, der sich dezent, aber haltbar durch sein Buch über die Fama schlingt.

Vergil hat sie in der „Äneis“ ausgemalt, die Geflügelte, über und über mit Ohren, Zungen und Augen bestückt, Fama, „ein aktives Wesen, das laufen, springen, fliegen, hören, flüstern, lügen und verraten kann“. So entstand sie in der Dichtung, und so geht sie später in die Ikonographie ein. Sie bedeutet Prestige wie Kunde, sie vertritt den Ruhm wie den schlechten Ruf. Dargestellt wird sie meist geflügelt und ausgestattet mit zwei Blasinstrumenten, eins meist kürzer, eins länger, golden und schwarz. Zugleich werden Fama bona und Fama mala separiert, jene meist jung und drall, gelegentlich mit Augen besetzt, diese meist eine Vettel, mit Zungen und Ohren bedeckt.

Solche famosen oder infamen Darstellungen von Ruhm und übler Nachrede zeugten zugleich von medialem Eigeninteresse, vor allem des Drucks. Wer vor Frau Melde warnte oder die Fama identifizierte, stellte die eigene, bessere Qualität heraus, postierte sich als Nichtgerücht. Die Personifikationen pauschalisieren die vielen Gerüchte zu „dem Gerücht“, wie heute generalisierend von „der Presse“ oder „den Medien“ geredet wird. Aber diese Bilder halten stets ein Moment von Ambivalenz präsent, der Anziehung und Abstoßung, des möglichen Guten wie des möglichen Schlechten am Gerücht. Die wird ihr dann, je näher an der Gegenwart, desto vehementer zu nehmen versucht. Im Rahmen einer allgemeinen Biopolitik (Foucault) wird das Gerücht zum Fall für Epidemologen, Statistiker und Sozialtechnologen. Mit Experimenten versucht man, ihm auf die Spur zu kommen. Definitionen, Schemata, Systematisierungen und Klassifikationen sollen es kontrollierbar und instrumentierbar machen.

„Gerücht: Eine Minderheit (Schwarze), (Juden), (Katholiken) (oder andere) ist Amerika nicht treu, sondern (plant einen Aufstand), (verschwört sich, um die Regierung unter Kontrolle zu bringen), (drückt sich vor dem Wehrdienst).“ So ein Schema von 1943, entstanden in einer der amerikanischen „rumor clinics“. Diese Kliniken waren Versuche, institutionalisiert auf die zahlreichen Gerüchte zu reagieren, die seit dem offiziellen Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zu kursieren begannen. Ziel war möglichst vollständige Erhebung, Meldung und Sammlung von Gerüchten sowie systematische Unschädlichmachung und Prävention.

Das schloß freilich die gezielte Nutzung von Gerüchten zur Destabilisierung des Gegners ein, so wie man von dem wiederum dasselbe annahm. Tatsächlich sollen amerikanische Nazis gezielt Gerüchtepropagandisten eingesetzt haben, um die USA vom Kriegseintritt abzuhalten. (Deren Methoden sollen dann wiederum in Kampagnenplanungen der Werbeindustrie übernommen worden sein.)

Als Gerücht erwies sich aber die Ansicht, das gegnerische Deutschland sei gerüchtefrei. Nicht nur die Akten des SD oder die Sammlungen der Sopade zeugen vom Gegenteil. Victor Klemperer notierte sogar das Gerücht, die Gestapo habe gezielt in Berlin ein Gerücht ausgesetzt und die Zeit gemessen, bis es in München anlangte. Das Gerücht wurde zum „Baukasten“ und damit zugleich Gebrauchsanleitung. 1946 resultiert daraus die stolze Gewißheit: „Die Kunst, die öffentliche Meinung zu steuern, hat ein hohes Maß an Vollkommenheit erreicht.“ 1947 zog man mit dem erworbenen Gerüchtewissen gegen Gerüchte über die Atombombe zu Felde, darunter das besonders unvernünftige „Gerücht, daß tödliche Strahlung sich lange in einem Gebiet halte“.

Auch diesen Disziplinierungsmaßnahmen ist das Gerücht schadlos entkommen. Fama lebt, gedeiht und führt ein großes Haus: „Mitten im Erdkreis [...], tausend Zugänge gab sie dem Haus und unzählige Luken [...]. Nirgends ist Ruhe darin und nirgends Schweigen im Hause.“

Man kann ihr Zuhause, das Ovid so beschrieb, heute Tag und Nacht besuchen, ohne vor die Tür zu gehen. Ein paar Mausklicks genügen.

An Geschichte der Fama und ihres Hauses Interessierte aber sind bestens beraten, zu lesen statt zu klicken: Neubauers Buch erhellt in einer überaus gelungenen Darstellung die Kulturgeschichte des Gerüchts, ohne uns gleich die dunkle Lust am Hörensagen zu nehmen.

Hans-Joachim Neubauer: „Fama. Eine Geschichte des Gerüchts“. Berlin Verlag, Berlin 1998, 272 Seiten, 39,80 DM