Diesseits der Donnerkuppel

Staunen über Amerika: Das Grassimuseum in Leipzig zeigt das weite Spektrum des Naturburschen und Utopisten Frank Lloyd Wright, der sich selbst zum größten Architekten der Welt erklärte. Er etablierte sich als Monolith in der Architekturgeschichte  ■ Von Katrin Bettina Müller

Für seine berühmte Spirale des New Yorker Guggenheim-Museums hatte Charles Lloyd Wright einen Vorläufer. Zwanzig Jahre zuvor plante der Architekt 1924/25 das Gordon-Strong-Ausflugsziel auf dem Sugarloaf Mountain. In dem nicht verwirklichten Projekt sollte eine spiralförmige Rampe zur Aussichtsplattform hinaufführen. Den Blick in die Landschaft bei der Fahrt hinauf stellte sich Wright so vor, als ob „die Welt um einen herumkreist“. Im Inneren sollte eine planetarische Kuppel das Schauspiel wiederholen, bei dem man sich im Mittelpunkt des Kosmos wähnen konnte. Seit den 30er Jahren gehörten Rampen und Auffahrten zur Drive-in-Kultur Amerikas. Wie die Filmrolle das Bild am Betrachter vorbeispult, lassen diese Architekturen den Raum an ihm vorüberziehen. Das Automobil und die Architektur: in beiden sah der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright Garanten für die Wiedergewinnung der Landschaft und einen an sie gekoppelten Begriff von Freiheit. „Schon seit vielen Jahren“, behauptete er 1930, „haben Flugzeug, Automobil, Telefon und ständiger Fortschritt den Menschen ein Gefühl der Weite zurückgegeben, so, wie es in einem großen, freien, jungen Land sein sollte – sie haben einem freien Volk seine Freiheit wiedergegeben.“

Wie sich dieser amerikanische Mythos in allen Projekten Wrights widerspiegelt, verfolgt die Ausstellung „Frank Lloyd Wright – Die lebendige Stadt“, die vom Vitra-Design-Museum konzipiert wurde und zur Zeit im Grassimuseum Leipzig zu sehen ist. Den utopischen Höhepunkt bilden Zeichnungen zu „The Living City“, in denen Wright mit seinen Schülern Modelle für Wohnen, Arbeiten, kommunale und kulturelle Zentren Ende der 50er Jahre noch einmal in einem Idealplan zusammenfaßte. Dort summen kleine Helikopter wie Bienen über eine bebaute Terrassenlandschaft, in der Natur und Kultur bis zum Horizont verklammert sind. Geschichte ist ein Fremdwort in diesem Kosmos. Voraussetzungslos beginnt die Landnahme.

Wright propagierte seine Idealstadt in den 30er Jahren unter dem Namen „Broadacre City“, weil jeder Familie mindestens ein Acre Grund und Boden – das „demokratische Minimum“ – zur Verfügung stehen sollte. Neben dem Reichtum an Land setzte er auch ökonomische Ressourcen voraus, sah sein Plan doch Gemeindezentren, Schulen, Universitäten, Verwaltungen, Theater, Arenen und Sportplätze als inszenatorische Höhepunkte der Stadtlandschaft vor, die von der Ebene der Wohnfarmen, Präriehäuser und Heimbetriebe immer wie die Hügel am Horizont sichtbar waren. Alles, was der Mensch braucht, sollte im Umkreis von 150 Meilen „bequem und schnell mit dem eigenen Auto oder Flugzeug zu erreichen sein“. Die Eckkneipe, aus der man zur Not zu Fuß nach Hause torkeln kann, kommt in Wrights Vorstellung von Urbanität nicht vor. Hygienische Nüchternheit bestimmt das Bild des bebauten Gartens.

Für diesen Schimmer vom Paradies werben zarte Buntstiftzeichnungen auf Transparentpapier, die für Leipzig reproduziert und in Lichtkästen gerahmt wurden. Etwas Märchenhaftes umgibt dort die aus der Vogelperspektive gesehenen gläsernen Kuppeln des Monona-Bürgerzentrums am See (geplant 1938–1953), deren harte Außenhaut von Waterdoms umspielt und aufgelöst werden sollte. Kaum glaubt man, daß sich darunter nicht nur ein „Civic Auditorium“ mit 10.000 Sitzen, sondern auch das County Jail befinden sollte.

Andere Ansichten stellen die Szenerie eines für Phoenix, Arizona, geplanten Regierungsgebäudes bei Nacht vor und lassen Arkaden und aus wabenförmigen Strukturen gebaute Pyramiden wie Kristalle funkeln. Durchscheinend ist der Grundriß einer kreisförmigen Villa (Haus David Wright, Phoenix, 1950) gezeichnet, die auf Stützen über dem Garten schwebt: Grünbraun schimmert die Erde zwischen Stützen und Zugangsrampe (Prinzip Spirale!). Der hauchdünne Strich verspricht Transparenz und Leichtigkeit der Baukörper. Diese Ästhetik steigert den phantastischen Charakter der Ausstellung.

Bei allem futuristischen Überschwang und den monumentalen Übertreibungen zum Trotz sind von den annähernd 1.000 Projekten Wrights über die Hälfte realisiert worden. Wenn auch nicht immer in der zuerst anvisierten Größenordnung: So ist eine 1955 in Pennsylvania gebaute, 30 Meter hohe Synagoge die Abwandlung einer 1927/28 entworfenen Stahlkathedrale, die fast fünfhundert Meter hoch und für 100.000 Menschen gedacht war. Ihr Grundriß gleicht einem in viele Drei- und Sechsecke zersplitterten Schneekristall, die sich überlagern und überschneiden. Ihre kristalline Struktur, den zeltartigen Aufbau und die tragende Konstruktion eines Dreifußes aus Stahl setzte Wright in der Beth-Shalom-Synagoge tatsächlich um.

Wrights Versuche, den Anspruch des Individualismus in Siedlungskonzepte umzusetzen, dokumentiert ein Lageplan der Usonia-II-Siedlung von 1947. Man sieht dichtgedrängte Kreise nebeneinander, die an Zellen unter dem Mikroskop erinnern. Es sind die Grundstücke, zwischen denen das Band der Straße mäandert. Daß der gesuchte Dialog mit der Natur auch die Basis der ungewöhnlichen konstruktiven Lösungen in Wrights Werk bildete, belegt das zwischen 1936 und 1939 gebaute Verwaltungsgebäude der S.C. Johnson & Son Company: Über dem großen Arbeitsraum stemmen pilzförmige Säulen ein Dach aus Glasröhren. Der Anmutung, unter den Baumkronen eines Waldes zu sitzen, kommt nicht einmal die gotische Architektur so nahe.

Der 1867 geborene Frank Lloyd Wright war ein Naturbursche und Utopist, der sich selbst zum größten Architekten der Welt erklärte. In seinen über sechzig Berufsjahren bis zu seinem Tod 1959 ist es ihm gelungen, sich als Monolith in der Architekturgeschichte zu etablieren. Zugleich finden sich für viele Bestandteile der europäischen Moderne, wie die Luft- und Licht-Euphorie der Lebensreformer, die kristallinen Zersplitterungen der Expressionisten oder die Naturverbundenheit des Jugendstils erstaunliche Entsprechungen in seinem Werk. Das wird besonders in den Inneneinrichtungen, Dekor-Elementen für Betonguß, in Lampen, Möbeln und Blei-Glas- Fenstern sichtbar, die im Grassimuseum knapp zwischen den Entwürfen Platz finden.

Bis 17. 1. 99, Grassimuseum Leipzig. Weitere Stationen: Glasgow, Amsterdam, Dortmund. Katalog: „Frank Lloyd Wright – Die lebendige Stadt“. Skira-Verlag, 68 DM