■ Deutschland verliert den bildungspolitischen Anschluß. Vorschläge, wie ein Aufbruch in Schulen und Hochschulen gelingen könnte
: Treibhäuser der Zukunft

Vor 35 Jahren gab der Heidelberger Philosoph Georg Picht in seiner Artikelserie über „Die deutsche Bildungskatastrophe“ das Stichwort für erste Studentendemos und löste zugleich eine bildungspolitische Welle aus. Jetzt hat sich um seinen damaligen Assistenten, den Heidelberger Professor Enno Rudolph, eine Gruppe aus verschiedenen politischen Himmelsrichtungen gefunden, die einen neuen Aufbruch in der Bildung nicht nur verlangt, sondern mit einem „Runden Tisch zukunftsfähige Bildung“ selbst beginnen will. Unser Bildungssystem, so das zentrale Verdikt des von ihnen verfaßten „Heidelberger Memorandums“, sei „nicht zukunftsfähig“.

In der gleichen Woche legte die OECD in Paris ihren jährlichen Bildungsreport vor. Die Daten erinnern an Pichts Diagnose von vor 35 Jahren. In Deutschland nimmt heute nur jeder vierte Jugendliche ein Studium auf. In den USA ist es jeder zweite. In Polen, Finnland und Großbritannien studieren mehr als 40 Prozent. Von den 27 Prozent, die hierzulande ein Studium beginnen, schließen es nur zwei Drittel ab. „Durch die geringe Akademikerquote“, so das Zentrum für Forschung und Innovation der OECD, „droht Deutschland auf Dauer ein Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften.“ Die stärkste Hochschulexpansion wird bei den bisher kaum beachteten Bildungstigern Osteuropas verzeichnet. Ungarn steigerte sich in nur sechs Jahren auf 175 Prozent, Polen gar auf 225 Prozent. Aber auch England und Irland verzeichnen Zuwächse von 50 beziehungsweise 60 Prozent. Deutschland bildet mit sieben Prozent in sechs Jahren das Schlußlicht. Kein Zweifel, die Vorbereitung auf die Globalisierung der Arbeitsmärkte läuft überall. Aber wie sieht es in den Trainingslagern für die Zukunft aus?

Es sind nicht nur die Zahlen, die nicht stimmen, meint Enno Rudolph vom Heidelberger Bildungsmemorandum, die heutige Bildungskatastrophe sitzt mindestens ein Stockwerk tiefer. Schulen und Hochschulen steckten allesamt noch in der Welt bloßer Belehrung. „Systematische Demotivation“ wird der „vorhandenen Lernpraxis“ attestiert. „Neugier, Phantasie und Lernbereitschaft, wie sie den meisten Kindern eigen sind, für das ganze Leben zu erhalten“, verlangt das Memorandum, zu dessen Erstunterzeichnern die Bildungsveteranin Hildegard Hamm-Brücher, der Physiker Hans Peter Dürr sowie der niedersächsische Landtagspräsident Rolf Wernstedt gehören. Der Übergang von einer Industrie- in eine Wissensgesellschaft sei eben auch der von der „belehrten zur lernenden Gesellschaft“. Allerdings, „auf diesen Wandel sind wir nicht vorbereitet“.

Auf dem Weg zur Fixierung zukunftsfähiger Bildung hilft ein Schritt zurück. Vor 40 Jahren hielt Hannah Arendt in der Bremer Böttchergasse den Vortrag „Krise der Erziehung“. Hellsichtig kritisierte sie Erwachsene, die Kindern Probleme aufladen, die sie selbst zu lösen sich scheuen. Hannah Arendt dachte noch nicht an ökologische Hypotheken. Damals war nicht jedes Neugeborene in Deutschland mit über 20.000 Mark Staatsschulden belastet. Hannah Arendt verlangte ganz einfach, daß Erwachsene für die Welt, wie sie ist, den Kindern gegenüber einstehen, auch dann, wenn sie mit ihr nicht einverstanden sind. Sie sollen sich nicht darauf rausreden, daß das Neue von den Kindern ausginge, daß die Kinder es ohnehin besser wüßten. Erwachsene, die ihre Welt wie Untermieter bewohnen und ihre Träume und Wünsche in Stoßseufzern oder im larmoyanten Konjunktiv artikulieren, die also eigentlich nichts wollen, ziehen mutlose Kinder auf. Sie verweigern ihnen das wichtigste Lebensmittel: Resonanz. Nur wer selbst eine Position hat und zuläßt, daß diese in Frage gestellt wird, wer also auf Fragen antwortet und sich nicht drückt, „ich trage die Verantwortung und brauche dir deshalb nicht zu antworten“, nur erwachsen gewordene Erwachsene werden Kindern und Jugendlichen Widerspruch und damit jene Eigenständigkeit ermöglichen, die feige Verwachsene den Kindern unterstellen, um sich damit aus der Affäre zu ziehen.

Wenn Bildung angesichts einer offenen Zukunft nicht mehr bloße Belehrung sein kann und wenn diese Erkenntnis nicht zu Weltflucht und Indifferenz umgedeutet werden soll, wie sollen dann all die Belehrungs- und Lernvollzugsanstalten abgelöst werden? Sie müssen zuallererst für Erwachsene selbst bedeutende Orte werden. Dann, nur dann, werden Schüler und Studenten das Gefühl haben, ich verpasse was, wenn ich nicht dorthin gehe – und eben nicht Angst haben, sich selbst und die Welt zu versäumen, wenn sie im Klassenzimmer oder im Seminarraum sitzen. Wie also Schulen und Unis wichtig werden lassen und nicht nur die Agonie besser finanzieren? Denn selbst wenn heute nicht gespart würde, besser finanzieren allein reicht doch nicht. Also vielleicht anders finanzieren?

Neben einer ökologischen brauchen wir auch eine generationenbezogene Steuerreform, die sogar kostenneutral bleiben kann. Sagen wir, jeder hätte zehn Prozent seiner Lohn- oder Einkommensteuer, die er ohnehin zahlt, in Bildungs-, Wissenschafts- und im weitesten Sinne Generationenprojekte einzuzahlen. Er kann sein Budget selbst adressieren. Das Finanzamt verlangt das Deputat und leitet es weiter. Der eine gibt es einer Reformschule, der andere einer Traditionsanstalt, ein dritter investiert in die ökologische Forschung, was einem vierten überhaupt nicht gefällt. Der Staat garantiert den Institutionen nur noch die Grundausstattung. Steuer wirkt heute ja ähnlich wie einst der Ablaßhandel. Sie suspendiert vom Handeln. Der Typ des kleinbürgerlichen Versicherungsbetrügers, der immerzu glaubt, die Welt schulde ihm noch was, ist auch deshalb so unglücklich, weil er das Pingpong von Geben und Nehmen kaum kennengelernt hat. So könnte er zu Engagement verführt werden. Wer sein Geld, also seine konvertierbare Energie, gibt, will wissen, was damit passiert. Wer seine Energie vom Staat ohne Rückmeldung abgezogen bekommt, fühlt sich ausgesaugt, auch wenn er weiß, daß die Steuer an die Allgemeinheit geht.

Das wäre ein Schritt, Schulen und Hochschulen zu Treibhäusern für die Zukunft zu machen. Eine Gesellschaft, deren Zentrum nicht mehr der Arbeitsplatz sein wird, braucht öffentliche Räume, aufgeladene Orte, kleine irdische Tempel. Wir werden gleichwohl ohne Arbeitsplätze mit mehr Intelligenz und Lust an der Welt- und Selbstverwirklichung nicht zukunftsfähig sein. Reinhard Kahl