Schmuggler, Forscher, Missionare

■ Der Peruanische Romancier und geheime Feminist Vargas Llosa erzählt vor 400 Menschen, wie er durch kurze Hosen und lange Expeditionen zur Literatur fand

Mario Vargas Llosa lebe jetzt in London, weil er in Peru nur mehr bedingt publizieren könne, erzählte Henning Scherf bei der Begrüßung des noblen Gastes in der brechend vollen Rathaushalle. Meine Sitznachbarin blitzt spöttisch aus ihren perfekt kajalumrandeten, dunklen Augen. So einfach ist das nicht, sagen diese Augen. Schon eine halbe Stunde vor Lesungsbeginn sicherte sie sich ihren Sitzplatz in der ersten Reihe und erzählte neugierigen, peruunkundigen Quälgeistern, daß sie den Schriftsteller Vargas Llosa liebe wie keinen anderen, dem Politiker Vargas Llosa aber mißtraue; daß sie jeden seiner etwa alle zwei Monate in der spanischen „El pais“ erscheinenden politischen Essays gründlich studiere und dabei immer die eine oder andere Beleidigung der Peruaner entdecke; daß Vargas Llosa den Peruanern die Wahlniederlage gegen den unbekannten, unscheinbaren Agraringenieur Alberto Fujimori wohl noch immer verüble; daß die Peruaner vom schweinereichen Präsidenten Alan Garcia (1985-90) derart ausgeplündert wurden, daß sie sich 1990 eben lieber für einen Mann aus der Mittelklasse als für einen aus der Oberschicht entschieden; daß Fujimori immerhin sowohl Guzmans Sendero Luminoso als auch die Botschaftsbesetzer von Tupac Amaru bändigte. Vor 16 Jahren wurde aus einer kleinen Europareise dieser jungen Peruanerin ein Daueraufenthalt in Bayern; gerade mal 19 Jahre alt, war sie natürlich begeistert von den Rechten der Frauen in Europa. Wohl fühlt sie sich hier aber erst seit ihrem Umzug nach Bremen. Denn die 400-500 Peruaner in Bremen und das „Instituto Cervantes“ garantieren ihr ein Stück Heimat in der Fremde.

Schon lange klopfte jenes „Instituto“ bei Vargas Llosa an. In einer seiner kurzen Schaffenspausen fand er nun endlich die Muße zu kommen in jenen „schönsten Saal, in dem ich je gelesen habe“. Im Rathaus also erzählte er vor mindestens ebensoviel Spanisch- wie Deutschsprechenden vom kleinen Vargas Llosa, der in kurzen Hosen massenweise Abenteuerromane verschlang. Doch das war nicht alles. Anhand von drei Romanschnipseln wollte er zeigen, wie eng und zugleich locker Biographisches und Literarisches verflochten sind.

Die US-amerikanische Kultur soll angeblich der europäischen um zehn Jahre voraus sein. Die Lateinamerikanische ist es in manchen Dingen vielleicht noch mehr. Schon 1977 thematisierte Vargas Llosa das Genre der Soap-Operas. Damals waren es allerdings noch keine Telenovelas, die die Straßen leerfegten, sondern Radionovelas. Der Roman „Tante Julia und der Lohnschreiber“ kontrastiert ein Alter ego mit dem Trivialautor Pedro Camacho, der mit fortschreitender Demenz Tote wiederauferstehen läßt. Künstlerische Qualität wird hier definiert als eine Frage der Distanz. Nur aus gebührendem Abstand erschließt sich die Welt. Eine These, die wie ein dünner roter Faden durch die Selbstvorstellung Vargas Llosas in Bremen zog. „Distanz zum Leben ist wichtig, um sich freischreiben zu können.“

Der Vater, erzählt er, steckte ihn zwei Jahre in eine Kadettenschule in Lima, um ihm seine literarischen Flausen auszutreiben. Doch gerade diese Schule inspirierte ihn Jahre später zur „Stadt der Hunde“. In dieser lateinamerikanischen Variation der „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ verdichtet sich das Internat „Mikrokosmos“ des sozialen und ethnischen Gefüges Perus.

1958 durfte Vargas Llosa teilnehmen an einer „sehr fruchtbaren“ Expedition der Universität San Marcos. Aus dieser „Begegnung mit Schmugglern, Forschern, Missionaren“ speisen sich „mindestens vier meiner Romane.“ Unter anderem „Das grüne Haus“. Und auch der Roman über Kolportagejournalismus gründet sich auf eigene Erfahrungen als Radiojournalist.

Das Verhältnis von Nähe und Distanz, Echtzeit und Fantasie, Kunst und Wirklichkeit definiert aber nicht nur die Literatur, sondern auch die Erotik. Im letzten Roman „Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto“, wird die Liebe verkompliziert, aber auch verstärkt durch Assoziationen zu Akten von Courbet, Balthus, Schiele, Goya, Klimt und durch Fantasien, die meistens viel wagemutiger sind als die Realität. Pergolesis Melodiengirlanden vermischen sich unaufdröselbar mit den Wallungen der Hormone. Nichts ist hier quälender als ein realer Betrug, nichts anregender als ein ausfantasierter Betrug. Am Ende aber läßt sich mit beidem leben, auch mit der Liebe zu Mann und Stiefsohn. Was wundert es, daß eine mittelalte Zuhörerin peruanischer Abstammung erzählt, daß sie Vargas Llosa schätzt, weil bei ihm Frauen begehren können, und zwar auch jüngere Männer.

Der Autor, der in Europa als einer der Hauptvertreter der sinnlichen, fantasiereich-mäandernden lateinamerikanischen Prosa wahrgenommen wird, betonte den Einfluß von Hemingway, Dos Passos, vor allem aber von William Faulkner auf sein Formgefühl. Daß er auch den Wirtschaftsliberalismus Nordamerikas vielleicht etwas unkritisch schätzt, davon war hier nicht die Rede. Auch nicht von seinem Haß auf Fujimoris Alleinherrschergelüste oder auf die mexikanische („terroristische“) Befreiungsbewegung der Chiapas.

Barbara Kern