Das Ende der Ironie

Bulettenbraterei und Bilder. Weil einfach jeder gegen den Charme des Knipsers machtlos ist: „Pecker“ von John Waters  ■ Von Axel Henrici

Er macht nicht einmal halt vor Frauen, die sich im Bus die Beine rasieren. Er tut's sogar beim Anblick fickender Ratten. Er ist der nette Junge von nebenan, der ständig abdrücken muß. Zwanghaft, aber unwiderstehlich liebenswert. Er sieht aus wie Leonardo Di Caprio, bevor der wußte, daß er schön ist. Er ist Pecker.

Andere Leute zwinkern unaufhörlich mit den Augen oder kratzen sich ständig am Kinn. Pecker muß fotografieren. Das kann den Leuten manchmal ein bißchen auf die Nerven gehen. Zum Beispiel, wenn Pecker (Edward Furlong) den Hamburger, den er eigentlich servieren soll, vorher unbedingt noch abknipsen muß, am besten aus der Vogelperspektive. Der Chef ist nicht amüsiert: sein Laden ist schließlich eine anständige Bulettenbraterei und keine... keine... Galerie! Doch gegen Peckers Charme ist auch er machtlos, und so fügt er sich grummelnd ins Unausweichliche: die welterste Fotoausstellung in einer Hamburgerklitsche. Als die Bilder dann hängen und die Leute aus der Nachbarschaft sich das alles mal anschauen, kommt es zum Eklat: Schamhaare aus der Untersicht. Das ist auch in Waters' Hampden, Baltimore (dem Heimatkiez des Regisseurs) – wo Kleinbürger und Künstler genau so friedlich nebeneinander herleben, wie das immer von Prenzlberg, Berlin, behauptet wird – zuviel des Guten. Pecker, you're fired.

Jetzt geht's natürlich erst richtig los. Denn zufällig findet sich auf Peckers erster Spontan-Vernissage auch die New Yorker Kunst- Agentin Rorey Wheeler (Lili Taylor) ein, immer auf der Suche nach jungen, unverbrauchten Talenten. Begeistert von seinen spontanen Schnappschüssen, kauft sie Pecker ein Bild ab, und der begreift zum ersten Mal, daß man damit auch Geld verdienen kann. Kurze Zeit später hat Pecker seine erste Vernissage in New York. Alles, was Rang und Namen und schwarze Klamotten hat, ist da – sogar Greg Gorman und die berühmte Cindy Sherman. Und Peckers privater Troß, Motiv allen Fotografierens. Peckers Preise steigen, aber er knipst immer noch unbekümmert wild drauflos: nun eben die New Yorker Kunstschickeria beim Betrachten seiner Momentaufnahmen.

Es zeugt von viel Selbstironie, daß Oberzyniker John Waters – der wie Sherman und Gorman auch im wirklichen Leben ein erfolgreicher Fotograf ist – sein Alter ego Pecker einen utopischen Antihelden spielen läßt: einen gänzlich unzynischen jungen Mann, der kein Star sein will, sondern dem es wichtiger ist, daß es erst mal seiner Familie und seinen Freunden gutgeht. Und so präsentiert ihn auch der Film: eine Hauptfigur mit Umgebung.

Im Vergleich zu früheren Filmen (wie etwa „Mondo Trash“ oder „Pink Flamingos“) ist „Pecker“ zwar in Maßen frech, aber nicht richtig provokativ. Ein Film, mit dem man sich einen schönen Abend machen kann, wozu auch der kongenial beschwingte Soundtrack (komponiert von Ex-Police- Drummer Stewart Copeland) beiträgt. Mit viel Liebe für die besondere Atmosphäre seiner Heimatstadt Baltimore zeigt Waters ein Sammelsurium leicht wunderlicher, sonst aber völlig normaler, doch unverwechselbarer Charaktere. Wie zum Beispiel Großmutter Memama, stoische Betreiberin eines Vorgartengrills und in der Familie für das Katholische zuständig, das sie aber selbstredend pragmatisch – sozusagen aus dem Bauch heraus – interpretiert, indem sie mittels einer sprechenden Muttergottespuppe am laufenden Band (nicht ganz wahre) Wunder wirkt – bis dann wirklich eines geschieht. Denn wo Trash ist, wächst das Rettende auch.

Aber bevor es zum fröhlich-versöhnlichen Showdown kommt, müssen Pecker und seine große Familie die Kehrseite des plötzlichen Ruhms kennenlernen: Mit dem unbeschwerten Fotografieren hat es ein Ende, die Leute wollen Geld sehen, und Peckers bester Kumpel Matt (Brendan Sexton III) ist sauer, denn wie soll er nun, wo in jeder Zeitschrift Fotos von ihm abgebildet sind, seiner Leidenschaft, der Kleptomanie, frönen? Das Abbild schlägt zurück – auf die Realität. Dafür hat Pecker jetzt eine nagelneue Nikon. Aber den unschuldigen Blick verloren. Pecker möchte sein altes Leben wieder zurück – Vogue hin oder her.

Wenn man nicht weiß, was man machen soll, muß man etwas tun. Also dreht Pecker den Spieß um, lehnt alle Angebote aus New York ab. Und so tritt ein vollbesetzter Charterbus die weite Reise vom Whitney Museum in Manhattan nach Baltimore an. In einer grotesken Inversion werden nun die professionellen Betrachter selbst zu Betrachteten. Und die, die sich bisher betrachten lassen mußten, damit die Betrachter ihre Dosis Authentizität bekommen, verlangen nun ihrerseits Echtheitszertifikate, während die großstädtischen Besucher in einer einschlägigen Bar nachweisen müssen, daß sie schwul sind. Und so mündet alles in einen großen Karneval: die utopische Versöhnung von Metropole und Provinz, schwul und hetero, Kunst (-schickeria) und (White) Trash, zynisch und naiv. In uns allen steckt noch was anderes, scheint Waters zu sagen: und es möchte echt sein. Da taut selbst der blasierte Greg Gorman auf – und bringt einen Toast aus: auf das Ende der Ironie.

Von wegen. Die arme Rorey hat schon wieder einen Neuen: diesmal ein Blinder, der „Porträts fühlen und Landschaften riechen“ kann. Beat this.

„Pecker“. Buch/Regie: John Waters. Mit Eddie Furlong, Christina Ricci u.a., USA 1995, 87 Min.

Pecker: 1. amerikanischer Slang für „Penis“; 2. (schwarzer) Südstaatenslang für „armer Weißer“