Stürzt die EU-Kommission?

Ein EU-Beamter packt über die Vertuschung von Korruption innerhalb der EU-Kommission aus. Im Zentrum des Skandals: die französische Sozialistin Edith Cresson  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Es wird eng für die EU-Kommission. Die Korruptionsvorwürfe gegen die EU-Behörde haben gestern eine neue Dimension bekommen. In einem 34 Seiten langen Bericht mit zahlreichen Anhängen hat ein kommissionsinterner Betrugsfahnder über die Praktiken in der EU-Kommission ausgepackt: Nachforschungen würden systematisch behindert, aufgedeckte Betrugsfälle totgeschwiegen und das Europaparlament mit ungenauen oder falschen Informationen an der Nase herumgeführt.

Der brisante Inhalt des Berichts könnte das Faß zum Überlaufen bringen und zum Sturz der EU- Kommission führen. Denn seit Wochen wächst im Europaparlament der Zorn über die ungeklärten Korruptionsfälle in der Kommission. Die Abgeordneten drohen, der Behörde am kommenden Mittwoch die Haushaltsentlastung zu verweigern.

Die logische Konsequenz wäre dann ein Mißtrauensvotum und die mögliche Entlassung der gesamten EU-Kommission. Der Beamte, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will, aber an Hand der Details von seinen Vorgesetzten leicht zu identifizieren ist, hat es nach eigenen Angaben „als Mensch und Christ“ nicht mehr ausgehalten. Das Europaparlament, sagt er, müsse erfahren, wie „inkompetent und unwillig die Kommissionsverwaltung mit Betrug und Unregelmäßigkeiten“ umgehe. Er habe das vorliegende Material zuerst dem EU-Kommissionspräsidenten Jacques Santer vorgelegt. Es sei aber nichts passiert.

Neben den bekannten Betrugsfällen in den Abteilungen für Tourismusförderung und für humanitäre Hilfe bringt der Bericht auch einige neue ans Licht. So wurden für Arbeiten etwa in der Forschungs- und in der Bildungsförderung private Firmen beschäftigt, deren Chefs Verwandte oder Freunde von hohen Kommissionsbeamten sind, die für die Geldverteilung zuständig sind.

Das Prinzip ist stets dasselbe: Die EU-Kommission betraut private Firmen mit der Abwicklung von Programmen – anders sind die vielfältigen Aufgaben auch nicht zu bewältigen. Doch im Gegensatz zu Kommissionsmitarbeitern, die nach strenger Aufnahmeprüfung eingestellt werden, läßt sich mit externen Firmen einiges drehen: Ich geb' dir einen lukrativen Auftrag, wenn du meine Freunde oder Verwandten einstellst. Manchmal geht der Auftrag gleich direkt an die eigene Familie.

Die Abwicklung des Bildungsprogramms Eurydice beispielsweise wurde einer französischen Firma übertragen, die von der Frau des Kommissionsbeamten Pascal M. eigens dafür gegründet wurde. Obwohl Betrugsfahnder der EU immer wieder auf falsche Rechnungen, Steuer- und Sozialversicherungsbetrug und andere Unfeinheiten in dieser Firma stießen, habe die Kommissionsspitze keine Konsequenzen gezogen. Der eigentliche Skandal des Berichts sind weniger die vielen Betrügereien, sondern die Art und Weise, wie sie vertuscht werden.

Mit großem Eifer würden Betrugsfahnder die Unregelmäßigkeiten aufspüren, ihre Berichte aber verschwänden regelmäßig in den Schubladen der Abteilungsleiter und Direktoren, beklagt der anonyme Berichtschreiber. Eine mögliche Erklärung liefert er gleich mit. Bei den meisten Schiebereien liefen die Fäden in den Mitarbeiterstab der französischen Kommissarin Edith Cresson.

Beweise, daß die französische Sozialistin und ehemalige Premierministerin unter François Mitterrand selbst die Finger im Spiel hätte, gebe es nicht. Aber auffällig sei es schon, wie viele ihrer Freunde und Bekannten für die Kommission arbeiteten. EU-Kommissare stehen unter dem besonderen Schutz ihrer Heimatregierungen. Und die französische Regierung sieht es gern, wenn möglichst viele Franzosen von der EU beschäftigt werden.