Heim in den Körper

■ Im Rahmen der Tanzwerft stellen sich vier Hamburger Choreografen auf Kampnagel vor

Neun Bahnen weißen Papiers hängen an gespannten Drahtseilen unter der Decke. Eine schwarzgekleidete Gestalt verschwindet dahinter und taucht zwischen den Ritzen wieder auf: eine Tänzerin. Sie bewegt sich vorsichtig in dem Labyrinth, das in der Imagination zum Wald wird, zur raschelnden Stilisierung eines verborgenen Ortes, an dem ihre Schatten spielen, bis sie die Bahnen zum Schleier lüftet, der ein Himmel wird, unter dem sie gehen kann. Im Dialog zwischen Stille und Musik, zwischen Präzision und Selbstvergessenheit, zwischen zartem Staunen und komischer Enthüllung schnippt sie eine kleine Energie durch die Diagonale des Raumes – und holt sie wieder heim in den Körper.

Cornelia Ölund ist eine von vier Hamburger Choreografen, die sich momentan auf Kampnagel präsentieren. Alle haben verschiedene Ansätze, gemeinsam ist ihnen nur, daß sie sich seit Januar die zwei Probenräume der Tanzwerft teilen. Enge Verhältnisse erfordern exakte Spielregeln, und so haben sie sich je zwanzig Minuten erteilt, in denen sie ihre Arbeit vorstellen dürfen.

Heidrun Vielhauer spielt im Duo mit Klever Viera die zum Stereotyp erstarrte weiße Frau, die dem wendigen Tänzer aus Ecuador nicht gewachsen ist. Nichts ist bei Klever Viera sicher, jede Bewegung wird sofort korrigiert. Das Hinsetzen stimmt nicht, und also steht er gleich wieder auf, um sich der fremden Frau zu nähern, ihr den Stuhl wegzuziehen, die Positionen in Frage zu stellen, zu vertauschen. Der Zusammenprall der Kulturen funktioniert und beweist: Die unvorhergesehene Begegnung, aus der das Stück vor vier Tagen spontan entstanden ist, fördert mehr zutage als jede gedankenschwere Konzeption.

Puren Tanz bietet Victoria Hauke im Duo mit Maria Fütterer. Ihr Thema: das Aufgeben von Balance im Spiel mit der Schwerkraft. Ein eigener, temporeicher Stil hat sich hier entwickelt, der sich am Fluß des Atems orientiert. Minimale Impulse steigern sich zu schwindelnder Energie, ebben abrupt ab. Kleine Wendungen sind darin versteckt, ideenreiche Posen und Eigenheiten, die kaum wahrnehmbar sind in der schnellen Abfolge der Bewegungen.

Jan Pusch begreift als einziger die zur Verfügung gestellten 20 Minuten als inszenatorische Aufgabe und kreiert daraus ein kompliziertes Spiel mit der Zeit, das an John Cage erinnert. Während eine Tänzerin den möglichen Strom der unbewußten Gedanken der Zuschauer ins Mikrofon flüstert, nutzen die anderen Mitspieler in wechselnden Positionen den Raum und nehmen jeweils eine Solistin in ihre Mitte.

Der kurzweilige Abend beweist zwei Dinge. Erstens: Jeder braucht einen fähigen Dramaturgen. Zweitens: Es wäre eine Schande, solches Talent brachliegen zu lassen.

Gabriele Wittmann

Weitere Aufführungen: 12., 13. und 14. 10., jeweils 19.30 Uhr