Die stolzen Krieger von Jamaica

Sie wohnen in den Blue Mountains, im wilden Osten der karibischen Insel Jamaica. Die Maroons, Nachfahren entlaufener Sklaven, sehen sich als schwarze Freiheitskämpfer. Sie sind stolz auf ihre Geschichte, auch wenn diese nicht nur von Ruhmestaten glänzt. Heutzutage wollen die Urenkel der Krieger mit Hilfe des Tourismus ihre ökonomische Unabhängigkeit sichern  ■ Von Thomas Pampuch und R. Semeniuk (Fotos)

Der Mann ist in den Achtzigern, weißhaarig und fast blind. Er hat ein kluges, etwas strenges Gesicht. Er sitzt fein angezogen, ein bißchen steif, in der guten Stube auf dem Sofa neben dem Klavier. Jeden Tag, von morgens bis abends, seit Jahren schon. Wir sind in Moore Town, Jamaica, bei Colonel Collin Lloyd George Harris. Der Colonel ist eine lebende Legende. Wer ihn erlebt, sein druckreifes, gewähltes Englisch hört, der ahnt, warum: Hier spricht ein Häuptling. Nichts anderes bedeutet ja auch sein Titel „Colonel“, der aus der Militärsprache der britischen Armee übernommen ist. Ein Militär ist Colonel Harris bestimmt nicht, war es nie. Doch über dreißig Jahre lang war er der Führer, der teacher und geistiges Oberhaupt der Windward Maroons. Und viele Jahre saß er im Senat von Jamaica.

Moore Town, der Hauptort der Windward Maroons, liegt an der Nordflanke der Blue Mountains, dem höchsten Gebirge Jamaicas, einem wildromantischen Gebiet im Osten der Insel. Von Port Antonio, der hübschesten Hafenstadt Jamaicas, sind es nur zehn Meilen hinauf zu den Maroons. Und doch hat diese Entfernung genügt, den runaways, den entlaufenen schwarzen Sklaven, im 17. und 18. Jahrhundert einen relativ sicheren Rückzugsort vor ihren Ausbeutern und Peinigern zu bieten.

Heute kann man das alte Maroons- städtchen über eine aufregend kurvige Staubstraße in 45 Minuten erreichen – ja sogar in dreißig Minuten, wenn man einen dieser ewig vergnügt Ganjaspliffs rauchenden Wahnsinnstaxifahrer erwischt. Doch in früheren Zeiten, als hier britische Soldaten die runaways einfangen wollten, trafen sie in diesen Wäldern auf eine der ersten Guerillas der Weltgeschichte.

Nicht selten nämlich fingen die Bäume auf dem Weg an zu leben und erwiesen sich plötzlich als gut getarnte Ansammlung von rebellious negroes. Die brieten dann den schwitzenden und mückengeplagten Sklavenfängern so oft eins über, daß die Empörung bei der Plantokratie in der damaligen Hauptstadt Spanish Town ins grenzenlose stieg. Und die Angst: Von den 83.038 Bewohnern der Insel waren 1731 nur 7.648 Weiße, während die Zahl der schwarzen Sklaven 74.525 Personen betrug.

Zusammen mit den über achthundert freigelassenen oder freigekauften free negroes ergab das eine schwarze Überlegenheit von zehn zu eins. Dieses Verhältnis hat sich bis heute kaum geändert. Dabei waren die für die Sklavenhalter gefährlichsten Schwarzen nicht einmal mitgezählt: eben jene aus der Sklaverei geflüchteten Rebellen, die später den Namen Maroons übernahmen. Diesen Namen hatten ihnen die Briten gegeben; er soll sich aus dem spanischen cimarrón – wild, ungezähmt – ableiten.

Die Windward Maroons sind eine weitgehend souveräne Gemeinschaft von rund sechstausend Schwarzen, die auf eine mehr als 250jährige Geschichte zurückblicken. Wie die Leeward Maroons von Accompong, im Westen der Insel im Cockpit Country gelegen, sind sie Nachfahren jener Kämpfer, die einst das ganze Empire in Atem hielten. Darauf sind sie immer noch stolz.

Heute ist Moore Town ein normales jamaicanisches Dorf: viele Bäume, bunte Holzhäuser, kleine Gärten mit Bananen und Mangos, jede Menge Kinder in Schuluniformen, zwei, drei kleine Läden und – gleich am Beginn der Dorfstraße – eine dieser offenen Dorfkneipen unter einem Palmendach. Die dazugehörige Lautsprecheranlage ist im Freien aufgebaut und groß wie ein Lastwagen.

Wer nach Moore Town kommt, muß „einchecken“. Früher machte man das am besten bei Colonel Harris, aber der ist 1995 von seinem Amt zurückgetreten. Und da der neue Colonel, Wallace Sterling, nicht immer da ist, hat Florence, die runde, resolute Tochter des alten Colonel, die Rolle übernommen. Florence ist nach dreißig Jahren in London nach Moore Town zurückgekehrt, um ihren Vater zu pflegen.

Mag sein, daß sie mit ihrer Umtriebigkeit auch politische Ziele verfolgt – immerhin redet sie vom neuen Colonel (der im übrigen der Bruder ihres Mannes ist) immer nur als dem „Interimscolonel“. Und sie läßt durchblicken, daß man in Moore Town eigentlich jemand anderen als Colonel haben will. They want a Harris and they want a woman! verkündet sie und zwinkert dabei geheimnisvoll.

Hat man das Glück, vor Florence' gestrengen Augen zu bestehen, wird aus der stolzen und herrischen Frau – „Ich bin eine direkte Nachfahrin der Maroonsheldin Grande Nanny!“ – sehr schnell eine liebenswerte, zu andauernden Späßen aufgelegte Gastgeberin, die sich rührend um ihre Gäste kümmert. Sie führt uns im Dorf herum, grüßt hier, schäkert dort; es ist, als schritte man mit einer Prinzessin durch ihr Reich. Schließlich lädt sie uns in das Harrissche Haus ein, damit wir den großen alten Mann persönlich kennenlernen.

So sitzen wir dann zusammen mit der Legende und hören – Legenden. Die mündliche Überlieferung hat die Maroons seit dem 17. Jahrhundert zusammengehalten. Der Colonel erzählt von Grande Nanny, jener sagenumwobenen Kämpferin aus Afrika, die, ausgestattet mit telepathischen Kräften, nach Jamaica gekommen sei und die Maroons im Krieg gegen die Briten geführt habe. Die Kugeln der Briten soll sie mit ihrer Vagina gefangen und zurückgeschossen haben.

„Sie war ein militärisches Genie! Und es war ein Krieg, keine Rebellion, denn wir waren ein freies Volk.“ Der Erste Maroonskrieg dauerte fast achtzig Jahre und führte 1739 zu einem noch heute gültigen Vertrag mit den Briten. Fast hundert Jahre bevor 1834 die Sklaverei in Jamaica endgültig abgeschafft wurde garantierte er den Maroons weitgehende politische und kulturelle Unabhängigkeit.

„Wir waren die besseren Kämpfer“, sagt Colonel Harris und nimmt einen Schluck von der selbstgemachten, eisgekühlten Ingwerlimonade, die uns Florence hingestellt hat. „Wir waren die ersten, die es gemacht haben, wir haben ein Beispiel gegeben, und andere Sklaven haben gesehen, daß es geht.“ Von diesem Ruhm zehren die Maroons bis heute. Das aber wirft für den weisen Alten auch Probleme auf. „Den Respekt, den man uns entgegenbringt, haben wir nicht selbst erworben, sondern er beruht auf dem, was unsere Vorfahren getan haben.“

Bei vielen heutigen Maroons gebe es einen Verlust an Identität, sie seien hinter das „Majestätische“ einer Nanny, eines Accompong oder eines Cudjoe (Führer des Ersten Maroonskrieges) zurückgefallen. Heute säße keiner mehr zu Füßen der Eltern, um Geschichten aus großer Vergangenheit zu hören. Gegen solche Tendenzen, aber auch, um kommunale Einkommensquellen zu erschließen, hat Colonel Harris die Idee eines Maroonsmuseums in Moore Town entwickelt, an dessen Verwirklichung derzeit gearbeitet wird. „Etwas Authentisches, womit wir Geld verdienen können.“ Moore Town will seine Geschichte endlich vermarkten.

„Es gibt keine so großen Unterschiede mehr zwischen uns und den anderen Jamaicanern“, sagt Wallace Sterling, der Nachfolger von Colonel Harris, den wir beim Waschen seines Landrovers treffen. „Die Maroons haben sicher das engste Verhältnis zu den afrikanischen Vorvätern, was Sitten und Tradition anbelangt, aber sonst leben wir sehr ähnlich wie die anderen.“ Der Kampf der Maroons richte sich heute gegen die Arbeitslosigkeit, vor allem bei den Jungen.

Doch lernen könne man von den Vorfahren immer noch: wie man überlebt. Die Bananenindustrie ist seit Jahren in der Krise. Das Museum sei da eine sehr gute Idee. „Wir wollen Touristen, vor allem Ökotouristen. Doch dieses Geschäft soll von der Gemeinschaft organisiert werden.“

Ganz einfach wird es mit der Traditionspflege allerdings nicht werden. Und sie wird zu vielen Diskussionen führen. Beschäftigt man sich mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Maroonshistorie, stößt man sehr bald auf eine durchaus komplizierte und verstrickte „Geschichte von Widerstand, Kollaboration und Verrat“ (so der Untertitel eines Standardwerkes zu den „Maroons of Jamaica“).

In den Verträgen, die ihnen Land und Freiheit brachten, verpflichteten sich die Maroons nämlich, fürderhin jeden entlaufenen Sklaven, der in ihre Hände fiele, gegen eine Belohnung an seinen „Herren oder Besitzer“ zurückzugeben. Und sie gelobten, dem Gouverneur zu helfen, weitere Rebellionen zu unterdrücken. Aus den Freiheitskämpfern wurden „schwarze Gendarmen“, die bei den Sklaven gefürchtet und verhaßt waren.

Es war ein Maroon, Captain Davy, der den großen schwarzen Rebellenführer Tacky 1760 im Auftrag der Pflanzer tötete. Im Zweiten Maroonskrieg, 1795, zogen die Maroons von Accompong gegen ihre rebellischen Brüder von Trelawny in den Krieg und kassierten eine fürstliche Belohnung. Die Trelawny Maroons wurden geschlagen und nach Nova Scotia in Kanada und später nach Sierra Leone deportiert.

Die Windwards blieben in diesem Krieg neutral. Doch das Trauma einer möglichen Deportation verfolgte sie. 1804 kapitulierten sie und baten darum, wieder als Fänger von entlaufenen Sklaven eingesetzt zu werden. Beim letzten großen Sklavenaufstand 1831, dessen Führer, der heutige Nationalheld Sam Sharpe, in Montego Bay gehenkt wurde, standen die Maroons wieder auf der Seite der Regierung. Und auch bei der berühmten Morant Bay Rebellion von 1865, einem Bauernaufstand unter Führung des Pfarrers Paul Bogle, an dem auch Weiße und Mulatten teilnahmen, halfen die Maroons bei der blutigen Niederschlagung. Bogle wurde zusammen mit 430 weiteren Rebellen hingerichtet. Heute ist er ein Nationalheld – wie Nanny.

„Manche Maroons gingen zu den Engländern über, um gegen uns zu kämpfen“, sagt Colonel Harris. Man kann sich die Geschichte seines Volkes nicht aussuchen. Doch in wessen Traditionen man sich stellt, das kann jeder selbst entscheiden. Im Maroonsmuseum von Moore Town wird man demnächst studieren können, wie die Nachfahren der Krieger mit ihrer Geschichte umgehen.

Thomas Pampuch, 50, ist Lateinamerikaspezialist, Reiseleiter, Buchautor und Journalist; R. Semeniuk arbeitet als Reportagefotograf für die Agentur Black Star und Das Fotoarchiv