Kosmopolitismus ist die Antwort

Die neue rot-grüne Regierung ignoriert die Anforderungen einer individualisierten und entgrenzten Gesellschaft. Ihre Antworten orientieren sich an den traditionellen Vorstellungen der Vollerwerbsökonomie und des Nationalstaates. Kritisiert der Soziologe Ulrich Beck. Er fordert eine Demokratisierung der EU und ruft zur Gründung einer Weltbürgerpartei auf. Mit ihr sollen die Konflikte der Globalisierung transnational moderiert werden. Ein Interview  ■ von Dieter Rulff

taz: Herr Beck, als Soziologe müßten Sie eigentlich sagen können, wo sich Gerhard Schröders neue Mitte befindet.

Beck: Die neue Mitte ist ein Fangbegriff, eine Selffullfilling Prophecy, über die eine Gruppenbildung ermöglicht wird.

Aber welche Politik verbirgt sich dahinter?

Die Regierung ist mit dem Anspruch angetreten, die Politik zu repolitisieren. Der bisherige stillschweigende Konsens, die Politik unter wirtschaftlichen Prämissen abzuwickeln, soll zurückgenommen werden. Für dieses Konzept existiert aber noch kein Begriff. Es sei denn, man greift auf sehr alte zurück.

Einst hieß es „rot-grünes Projekt“.

Die Vorstellung, man sitzt jetzt an den Schalthebeln und brauche nur den einen oder anderen betätigen, ist naiv. Die Gesellschaft funktioniert nicht mehr nach Entwürfen. Sie ist ein hochkomplexes Unternehmen voller Widersprüche geworden. Der Staat kann nur noch überlegen, was er selbst tun kann und wo er andere ermächtigen muß. Den entsprechenden Politikbegriff, der eben nicht mehr der instrumentelle ist, wie er in den sechziger und siebziger Jahren vorherrschte, den hat die Regierung noch nicht entwickelt. Sie verzettelt sich in alten Vorstellungen.

Aber fordert nicht die Gesellschaft ein „Projekt“, einen Kern von Politik, mit dem sie sich identifizieren kann?

Wir sind eine hochindividualisierte Gesellschaft, für die traditionelle Bezüge nicht mehr den Kitt bilden. Sie ist geprägt von den Herausforderungen eines säkularen Wandels. Es wäre interessant, wenn die Politik es schaffen würde, all das zu einem Projekt der gesellschaftlichen Selbstintegration zu bündeln. Doch ist nichts dergleichen bei Rot-Grün erkennbar.

Was wäre ein solches Projekt?

Man müßte zum Beispiel eine Gesellschaft ausmalen, die eine Alternative bietet zur Arbeitsgesellschaft. Bislang stehen noch immer alle Parteien hinter dem Postulat der Vollbeschäftigung. Die ist nicht mehr erreichbar. Wenn man aber sagt, wir arbeiten an einer Gesellschaft, in der Erwerbsarbeit zwar wichtig ist und für jeden zugänglich sein soll, in der es aber auch mehr Zeitsouveränität und Autonomie gibt, dann könnte ein solches Projekt auch Energien in der Gesellschaft freisetzen.

Sie sprechen von ihrem Modell der Bürgerarbeit. Wie erklären Sie sich, daß das nun ausgerechnet von einer konservativen Regierung aufgegriffen wird?

Das habe ich mich auch gefragt. Edmund Stoiber fand die Idee faszinierend. Es bestätigt meine Vermutung, daß der Ort, an dem neue Ideen erprobt werden, keineswegs von vornherein feststeht.

Soll die Bürgerarbeit der Wachstumsorientierung die Spitze nehmen?

Ja, natürlich. Jospin hat die Politik des Dritten Weges mal mit dem Satz charakterisiert: „Marktwirtschaft ja, Marktgesellschaft nein.“ In diesem Sinne ist Bürgerarbeit ein Stück weit ein staatlich sanktionierter Ausstieg aus dem Markt. Hier wird der demokratischen Gesellschaft im Sinne einer konkreten zivilen Eigengestaltung ein Raum gegeben.

Nun hat die Bundesregierung den Atomausstieg beschlossen...

...überraschend, wie lautlos das vonstatten geht.

Gleichzeitig fördert sie eine neue Risikotechnologie: die Biotechnologie. Hat man aus den Erfahrungen nichts gelernt?

Die Bundesregierung handelt hier völlig schizophren. Sie baut weiterhin auf einen total antiqierten Innovationsbegriff. Sie ist ignorant gegenüber dem, was sich bei der Reflexivität der Risikogesellschaft getan hat, übrigens auch an neuen Märkten und Konsumchancen. Für mich ist die Gretchenfrage dieser Gesellschaft eine ganz pragmatische: Ist die neue Risikotechnologie privat versichert? Mich wundert, daß diese Debatte nicht öffentlich geführt wird. Die Biotechnologie ist nicht privat versichert. Deshalb hoffe ich, daß die Grünen der SPD klarmachen können, wie antiquiert ihr Innovationsbegriff ist.

Die SPD wird auf die Notwendigkeit europäischer Regelungen verweisen. Müssen wir damit leben, daß Politik mit der Entdeckung der Langsamkeit einhergeht?

Man kann Demokratisierung und komplexe Entscheidungsabläufe als einen Automatismus der Verlangsamung interpretieren. Dadurch wird mehr Partizipation und damit ein Ausgleich der zugrunde liegenden Konflikte ermöglicht.

Führt diese Langsamkeit dazu, daß sich die Einschätzung des Risikos verändert?

Dieses Risiko muß man eingehen. Einem solchen Prozeß muß man sich aussetzen, auch wenn dabei ein Konsens über Technologien hergestellt wird, die sonst womöglich abgeblockt worden wären. Ein offenes Verfahren ist als Angebot an alle Beteiligten zu verstehen – das ist praktische Demokratie. Die Ambivalenz liegt darin, daß einerseits riskante Technologien konsensfähig gemacht werden und andererseits die Sachzwangfiktion der Technologie aufgegeben wird und sich den Normen der Mitsprache öffnet. Ich halte das für eine wesentliche Bereicherung.

Die Bürger begreifen die EU längst noch nicht als ihr Staatswesen. Wie kann ein Prozeß der demokratischen Aneignung aussehen?

Wir haben bisher bei Politik und Gesellschaft territorial gedacht. Der Staat organisiert die Gesellschaft innerhalb von Grenzen. Dieses Bild ist antiquiert. Inzwischen sind die gesellschaftlichen Beziehungen mit den wirtschaftlichen nicht mehr kongruent. Die Politik muß nachvollziehen, was die Wirtschaft bereits praktiziert: ein multilokales Handlungsparadigma. Für diese Herauslösung der Politik aus einem territorialen Verständnis ist Europa das zentrale Experimentierfeld. Entscheidend wird sein, ob wir Europa als Großnationalstaat oder etwas ganz Neues wollen. Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir eine Debatte um das Leitbild. Für mich wäre ein Politikmodell interessant, das zum einen die nationalkulturellen Kontexte ernst nimmt, aber diese auf allen Ebenen für eine europäische Politik öffnet. Das kann mehr sein als die Summe aller Nationalkulturen, nämlich eine neue Identität.

Der Philosoph Jürgen Habermas geht davon aus, daß eine solche Identität in der Auseinandersetzung um die europäische Verfaßtheit geschaffen werden kann.

Ein Großnationalbewußtsein des Europäischen wird es meines Erachtens nicht geben. Es wird kein europäisches Selbstverständnis geben, wie es ein deutsches oder französisches gibt – auch wenn sich das viele wohl so vorstellen. Es kann nur ein europäisches Bürgerrechtsbewußtsein in Verbindung mit nationalkulturellen Traditionen werden.

Wird es auch auf europäischer Ebene gelingen, soziale Desintegration durch politische Teilhabe zu kompensieren?

Das ist die Schlüsselfrage. Wir haben Hinweise darauf, daß es so etwas wie transnationale kulturelle Bindungen gibt. Andererseits haben wir eine Entscheidungsstruktur, die sich immer mehr anonymisiert. Die entscheidende Frage wird sein, wie man die transnationalen kulturellen Bindungen verpflichtend macht und sie mit den Institutionen verkoppelt, in denen politisch entschieden wird.

Entscheidend für die Akzeptanz europäischer Institutionen wird sein, ob gleiche Maßstäbe sozialer Gerechtigkeit gewährleist werden.

Eine Gleichverteilung sozialer Rechte, ein europäischer Sozialstaat, womöglich nach deutschem Vorbild, wird schwierig sein. Das ist absehbar. Eine Alternative dazu wäre die Einführung einer Grundsicherung; ein Bürgergeld, das nicht an alle qua Geburt verteilt wird – das wäre unrealistisch –, sondern das an Bürgerarbeit gekoppelt wird. Das wäre zwar nur ein minimaler, aber ein realistischer Sozialstaat.

Nun sind die EU-Staaten, mit zwei Ausnahmen, sozialdemokratisch. Sind Sozialdemokraten die besseren Europäer?

Das kann man nicht sagen. Sie sind zunächst einmal in einem ambivalenten Sinne gegen den Neoliberalismus. Das sozialdemokratische Europa steht unter dem Zwang, den Sozialstaatsprotektionismus mit einer Öffnung und einer Repolitisierung der Politik zu verbinden. Es gibt einen Minimalkonsens darüber, daß die Prämissen des Sozialstaates neu definiert werden müssen, daß man ihn nicht so ohne weiteres fortschreiben kann.

Wie minimal ist dieser Konsens? Ist es vorstellbar, daß ein Pierre Bourdieu, der die Politik gegen die Wirtschaft in Stellung bringt, zusammen mit einem Ulrich Beck und einem Anthony Giddens, die den dritten Weg für beide suchen, als Berater einer europäischen Regierung einen solchen Neuentwurf formulieren?

Wenn noch Jürgen Habermas und Alain Tourraine dabei sind, wäre das möglich. An mir sollte es nicht scheitern.

Sind Intellektuelle Prototypen des Weltbürgers, den Sie propagieren?

Sie haben die Position des Weltbürgers nicht gepachtet. Die Weltbürgerpartei, zu deren Bildung ich aufgerufen habe, muß eine intellektuelle Fraktion haben. Aber ich glaube, diese Bewegung entsteht eher im Umfeld der multinationalen Konzerne, der Global Players, und in den Hexenkesseln der Metropolen, wo die Weltprobleme köcheln.

Die Ebene des Globalen hat der Soziologe Zygmunt Bauman als die der Reichen charakterisiert, der lokal die Armen gegenüberstehen. Werben Sie nicht für eine recht exklusive Vereinigung?

Ich teile weitgehend Baumans Einschätzung. Ich scheue mich nicht zu sagen, daß wir darauf noch keine Antwort haben. Dennoch brauchen wir eine Politik, die den nationalstaatlichen Blick erweitert und sich nicht in der Weise abschottet, wie man es zur Zeit an den europäischen Reaktionen auf die Südostasienkrise studieren kann. Was in diesen Staaten passiert, blüht uns doch in der ein oder anderen Weise auch. Die Abbildung der Gemeinsamkeit der Lagen wäre Aufgabe einer Weltbürgerpartei.

Gibt es unter unseren Politikern bereits einen solchen Weltbürger?

Ich beobachte mit Interesse Joschka Fischer. Er intepretiert das nationale Interesse zwar nicht kosmopolitisch – das wäre zu anspruchsvoll –, aber er versucht es zu öffnen für eine Weltbürgeridentität. Andererseits muß man vorsichtig sein, daß man nicht ein neues Kreuzrittertum der kosmopolitischen Ethik befördert.

Wofür die US-Nato-Politik stünde?

Genau. Dann wird im Namen der Grundrechte irgendwo einmarschiert. Die USA haben das als Legitimationsinstrument im Griff. Statt dessen muß das nationale Interesse an weltbürgerliche Inhalte gekoppelt werden, um die Außen- und Innenpolitik neu zu definieren.

Sind Fischer und die USA zwei Varianten der Weltbürgerpartei?

Ja. Wenn man sich – quasi experimentell – unter den heutigen Bedingungen fragt, welche Ideologie ein Staat ohne Feinde braucht, um den inneren Zusammenhalt zu sichern, dann ist die kosmopolitische Idee die perfekte Antwort. Es ist das Design, um nationale Interessen global umzusetzen. Deshalb muß man sehr aufpassen, daß die Weltbürgerinteressen nicht verbunden werden mit einem alten territorialen Spiel von Märkten und kapitalistischen Eigeninteressen. Und da ist es nicht leicht, die Grenzen zu ziehen.