: „Ein Wendeverlierer wollte ich keinesfalls sein“
■ „Noch mal davongekommen“: Das Porträt eines Lebenslaufs (Sonntag, 23.30 Uhr, ARD)
„Siehdichum“ heißt eine kleine Berliner Firma, die orginelle Ausflüge anbietet, etwa zur Geschichte der Post im alten Berlin. Oder unter dem Titel „Kohle, Karpfen und Kanonen“ eine Entdeckungstour ins Peitzer Spreeland, wo der erste märkische Hochofen errichtet wurde. „Siehdichum“ ist ein Einmannbetrieb. Idee, Recherche und Führungen – alles das Werk von Uwe Scheddin, zu DDR-Zeiten Dramaturg am Potsdamer Kabarett. Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm porträtieren den ehemaligen FDJ-Sekretär und heutigen Kleinunternehmer in ihrem Dokumentarfilm.
Sein Titel „Noch mal davongekommen“ trifft diesen deutschen Lebenslauf. Denn der Film beschreibt vielschichtig gleich mehrere Reisen – nicht nur ins Berliner Umland. Wir sehen Uwe Scheddin mit seinen Kunden mal ernst an Kriegsgräbern sowjetischer Soldaten, mal in Shorts ausgelassen turnend auf Karl Marx' steinernem Schoß. Und wir sehen Uwe Scheddin im Gespräch mit seiner Familie, mit alten und neuen Freunden, auch ungläubig staunend über seine Stasi-Akte – eine persönliche Entdeckungstour, die die Gratwanderung zwischen Staatsräson und eigenen Träumen nachvollzieht. „Feindlich-negative Einstellung“ hatten ihm Mielkes Spitzel attestiert, und einer seiner Freunde äußerst heute Unverständnis, „daß du in dieser Partei bleiben konntest“. Ullrich und Gumm zeigen uns einen kreativen und sympathischen Chaoten, der sich nicht unterkriegen ließ. „Ein Wendeverlierer wollte ich auf keinen Fall sein“, sagt Uwe Scheddin.
Wie leben die Menschen im neuen Deutschland? Was bedeuten für sie Systemwechsel und Vereinigung? Das sind die Themen der Autoren, die für die ARD auch die Langzeitdokumentation „Berlin – Ecke Bundesplatz“ in Szene setzen. Sie lassen „Leute zu Wort kommen, die sonst im Fernsehen nichts zu sagen haben“, sagt Hans- Georg Ullrich. Und die die Brüche der jüngsten deutschen Geschichte in so wunderbaren Sätzen wie dem von Uwe Scheddin wiedergeben können: „Ich bin ja das für mich naheliegendste Ost-Produkt.“ Leider muß man dafür immer länger wach bleiben. Während „Das Fremde“ von Gumm/Ullrich 1994 noch um 20.15 Uhr gesendet wurde, schob die ARD „Noch mal davongekommen“ ins Nachtprogramm, wenn für anspruchsvolle Stoffe nur noch Videorecorder aufnahmefähig sind. Es sei eben auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Trend, künstlerisch und kulturell bedeutendere Sendungen zugunsten der Unterhaltung immer weiter nach hinten zu drängen, klagt Ullrich nicht ganz unbescheiden. Aber zu Recht. Thomas Gehringer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen