Zeit der zweiten Chance

■ Der Schriftsteller Reinhard Jirgl über das Schreiben neun Jahre nach dem Mauerfall, über das Phänomen der neuen Emigration, Deutschland als Auswandererland und Berlin als Startrampe

taz: Der Mauerfall hat der Produktion vieler ostdeutscher Autoren eine längere Auszeit verschafft. Historische Distanz schien erforderlich, um über den Epochenbruch schreiben zu können. Neun Jahre sind nun vorbei – Zeit genug, um Ihre Erfahrungen nun literarisch zu bewältigen?

Reinhard Jirgl: Da ich mich für den Fortgang und die Zerbrochenheiten von Biographien interessiere, ist für mich nach neun Jahren die Zeit gekommen, wo sich bestimmte Sachen sedimentieren und man besser Konturen erkennen kann. Der Osten ist ja der Landstrich, den ich am genauesten kenne. Hier ist der Punkt erreicht, bei dem eine Konturierung der Zerbrochenheiten deutlich wird. Zum Beispiel bei Leuten, die noch keine Biographie hatten. Da ist für mich nun eine größere Chance als in der unmittelbaren Wendezeit, all das zu beschreiben. In der Zeit um 1989/90 stellte ich mir die Frage, wie man schriftlich am schnellsten auf diese schnelle Zeit reagiert. Ich schrieb Aufsätze. Entgegen den Erwartungshaltungen der großen Feuilletons, die fragten und immer noch fragen, wo denn nun der große Wenderoman sei, ereignen sich jetzt Dinge, die einen größeren Freiheitsgrad haben, sie zu beschreiben.

Kurz nach dem Mauerfall gab es Romane, die direkt an den Orten der Vereinigungsereignisse spielten, an der Mauer oder, wie in Ihrem Roman „Hundsnächte“, im Grenzstreifen. Gehen Sie jetzt weg von diesem expliziten Benennen von Örtlichkeiten der Wende?

Ja, denn diese Orte werden schwächer oder geraten zum Geisterbild. Die Grenzen, die sich jetzt auftun, sind anderer Art. Das ist die merkwürdige Dialektik unserer Zeit, nämlich in einer Zeit der Entgrenzung neue Grenzen zu finden oder zu sehen. Wo diese Grenzen liegen und wie sie sich definieren, das interessiert mich.

Werden mit dem Abstand andere Ebenen der Reflexion erreicht? Wird der Blick anders?

Beides. Es kommt ja hinzu, daß ich selbst älter werde und andere Aspekte suche und finde. Wichtig ist aber, daß ich immer über das Hier und Jetzt schreibe. Das war in allen meinen Büchern so. „Abschied von den Feinden“ war für mich der Versuch, die Bruchsituation der Wende so deutlich wie möglich zu konturieren. Im Roman danach habe ich versucht zu sehen, wie es weitergeht. Ich wollte Figuren aufzeigen, die in irgendeiner Art gezwungen sind, Entscheidungen zu fällen. Und zwar einen ganz harten Dezisionismus, der keinen Fußbreit des alten Lebens mehr als gültig übrigläßt. Jetzt merke ich in meinem persönlichen Umfeld, daß sich viele Leute entscheiden, aus Deutschland wegzugehen. Das sind ebenfalls Jetzt-Erscheinungen. Es ist nicht so, daß ich mich in östliche Biographielandschaften eingrabe, daß ich versuche, alte Gräben nachzuzeichnen, wie Verdun-Sucher, die heute noch auf den Landschaften herumrutschen und nach Munition suchen. Ich versuche vielmehr zu sehen, wie es mit diesen Menschen weitergeht.

Sie nennen das von Ihnen beobachtete Phänomen „neue Emigration“. Was meinen Sie genau damit?

Ich meine damit nicht die Aussteiger der 70er und 80er Jahre, die den abenteuerlichen Selbstmord in irgendwelchen unwirtlichen Gebieten der Welt suchten. Ich meine eher die Umsteiger, die dem Mythos der sozialen Funktionalität und des Erfolges nachsteigen. Ich kenne Leute, die es in die USA, nach Schweden oder Frankreich treibt, ganz unterschiedlichsten Alters und unterschiedlichster Biographie. Das sind erfreulicherweise keine Ost-West-Geschichten mehr, das geschieht auf beiden Seiten. In dieser Zeit der Entgrenzung sind andere Dinge in Bewegung, die diese kindlichen Ich- Ideale versuchen aufzubauen. Es sind rigorose Schritte, die das bisherige Leben, das in Sackgassen führte, kappen. Wir haben in diesen grenzlosen Zeiten zum ersten Mal die Möglichkeit dazu. Mich interessieren die Fragen: Warum gehen Leute aus diesem erstarrten Deutschland weg? Was ist in diesen Köpfen los, die das tun? Wie versucht man, sich eine neue Biographie zu erschaffen?

Wie kommt es zu diesen heftigen Brüchen?

Die gemeinsamen Punkte liegen meistens in den Schichten des Scheiterns von privaten und Elternbeziehungen oder beruflichen Problemen. Das gab es natürlich immer schon, genauso wie die Tatsache, daß man in einem gewissen Alter sich an die Situation gewöhnt und damit abfindet. Jetzt gibt es ein neues Signal, nämlich: Man hat die Chance, sich nicht mehr abfinden zu müssen. Wenn man einen kindlichen Bemächtigungstrieb gegenüber der Welt entwickeln kann, ist es heute möglich, in die Welt zu gehen und zu versuchen, einen Traum zu installieren. Der Idealzustand von diesen Leuten ist, wenn sie die Grenzen selbst schaffen. Ein Mensch kann nicht existieren ohne Grenzen. Eine Grenze ist auch immer ein Horizont der Selbstdefinition und hat nicht nur etwas Restriktives an sich. Ich will diese Brüche aber nicht werten, sondern verstehen, was diese Leute dazu bringt, das zu machen. Denn viele haben schon die Hälfte ihrer vermutlichen Lebenszeit hinter sich.

Das Buch, an dem Sie zur Zeit arbeiten, hat den Arbeitstitel „Die atlantische Mauer“.

Das ganze Buch spannt einen Bogen und spielt zu Beginn in Berlin, das als eine Art Startrampe fungiert. Das aufgerissene Berlin, die in Baugruben zum Teil ersaufende alte Stadt schleudert sich heraus in die Welt und fliegt wie ein Pfeil nach New York. Während des Flugs reißt dieser Pfeil bestimmte Geschichten an sich. Es geht um eine Frau, die versucht, in den USA ihr Leben neu zu installieren. In der Entgrenzung sieht sie auf einmal die Grenzen der Vergangenheit in sich, die unerledigten Geschichten, die sie auf sehr brutale Weise auffindet. Nach dem Abprall an der atlantischen Mauer gerät sie in das von ihr selbst gekappte Leben zurück und findet dort die unbearbeitete Vergangenheit von ihr selbst, die aufgeladen ist durch Gegenwart.

Auch bei diesem Buch vermeiden Sie mit Ihrer Sprache, daß die Leser sich einfühlen.

Ich finde diese Art der Literatur obsolet, in der man Figuren skizziert, die paradigmatisch sein sollen. Mich interessieren Entscheidungen. Ich versuche den Leser sprachlich am Arm zu packen und in diese Entscheidungssituation hineinzubringen, egal, ob die Figur sympathisch ist oder nicht. Dabei ist die Doppeltbestimmtheit des Menschen interessant: Er hat natürlich die soziale Existenz und die Ich-Existenz. Dieser Zerreißprozeß, der von Anfang an in jedem Menschen da ist und mit dem in der DDR nur anders umgegangen wurde als in der alten Bundesrepublik, bleibt bestehen. Das sind die Begebenheiten in der Landschaft, die mich reizt, zu betreten und zu beschreiben.

Könnten Sie sich vorstellen zu emigrieren?

Nein. Weil ich diese Träume nicht habe. Ich habe dieses Ich- Ideal nicht, das von einer Welt träumt, die ich bisher nicht erleben konnte. Ich habe nicht diese Vorstellung, daß es irgendwo eine bessere Welt gäbe. Interview: Michael Neubauer