Nachdenken über Ch.

In einer Gruppe osteuropäischer Filmdelegierter in den Südwesten Chinas reisen heißt, sich mit der eigenen Fremdheit abzufinden. Über chinesische Konzentrationslager, lange Festreden, prachtvolle Ballettdarbietungen und das Filmfest von Chong Qing  ■ Von Dorothee Wenner

Es fing damit an, daß nie zuvor im engeren Bekanntenkreis jemand etwas von dieser Stadt, in der angeblich 30 Millionen (!) Menschen leben, gehört hatte. Auch die hier im Handel erhältlichen China-Reiseführer schenken Chong Qing nur wenig Aufmerksamkeit: Die Stadt sähe aus wie Londons Arbeiterviertel um die Jahrhundertwende, und die Gebirge drumherum wären die Heimat des Pandabären, zudem sei die Gegend als einer der vier Glutöfen Chinas mit Mückenplagen von epidemischen Ausmaßen bekannt und deswegen nicht gerade die angenehmste Gegend für Touristen. Aber Chong Qing war auserkoren, diesjähriger Gastgeber des von Zhou Enlai gegründeten „China Golden Rooster & Hundred Flowers Film Festival“ zu sein. Und so trafen sich dort dann 40 ausländische Filmdelegierte aus ehemaligen Ostblockstaaten und Berlin sowie eine zweite, „von außen kommende“ Delegation aus Hongkong und Taiwan, um dem chinesischen Pendant der Oscar- Verleihung beizuwohnen.

Genauer gesagt: Wir versammelten uns zunächst einmal im noch nicht ganz fertigen Best Western Hotel, das ungefähr zehnmal so hoch ist wie das Best Western in Berlin-Neukölln. Die Damen an der Rezeption, die sämtlich englische Namensschildchen wie „Sandy“, „Sarah“ und „Nancy“ trugen, gaben mir eine Art Kreditkarte, mit der ich mir Zugang zu einem Zimmer im 26. Stock verschaffte. Längst war es dunkel geworden, und ich wußte noch nichts von dem komplizierten Cockpit auf dem Nachtkonsölchen, von dem aus man zentral Licht, TV, Klimaanlage und Wecker steuert. Also taperte ich durchs Zimmer und war genauso erschrocken wie der Mann im Bett, auf den ich mich beinahe gesetzt hätte.

Eine halbe Stunde später stellte sich im Bus heraus, daß es Wladimir von der russischen Delegation war, der beinahe die erste Eröffnungszeremonie verschlafen hätte. Auch ich war von der langen Reise völlig umnebelt, und folglich wirkte das, was in der von Millionen Glühbirnen illuminierten Großen Halle des Volkes auf uns wartete, einfach nur unglaublich.

Beim Gang durch die Menge ließ sich unschwer erkennen, daß Wladimir und seine russischen Kollegen die einzigen wirklich delegationserfahrenen Teilnehmer unserer Gruppe waren: Würdevoll schritten sie an den verschiedenen Kapellen und jubelnden Fahnenkindern vorbei, während wir anderen wie verschreckte Kaninchen wirkten und zumindest einige von uns auch ein schlechtes Gewissen hatten. Zum Glück hatten sich drinnen schon viele tausend Menschen versammelt, um dem ersten, wie es hieß, großen Kulturereignis Chong Qings seit Jahrzehnten beizuwohnen, und so fielen wir nicht weiter auf. Die Zeremonie war eine prächtige Show mit sich steigernder Dramaturgie, die von Reden lokaler Politiker und chinesischer Filmprominenz unterbrochen wurde. Leider verstand ich kein Wort, ließ mir aber erklären, daß sich alle Prominenten irrsinnig freuten, in Chong Qing zu sein, daß es sich bei den endlosen Transparenten, die zwischendurch von den Rängen herabgelassen und auf der Bühne umhergetragen wurden, um die Namen der 10.000 Unterstützer des Festivals handelt. Und daß die spektakulären Balletteinlagen die getanzte chinesische Filmgeschichte sei! Das machte ganz schön was her, was die Damen und Herren auf der Bühne mit Blumen-und Insektenkostümen, Federboas und folkloristisch inspirierter Akrobatik zwischen Bühnennebel und Feuerwerken so darboten.

Den Höhepunkt bildete eine enorm gelenkige Gruppe kleiner Mädchen, die zwischen Mini Playback Show und Peking-Oper eine recht gewagte Synthese präsentierte. Die zweite von insgesamt drei Eröffnungszeremonien, bei der unter anderem alle Delegationsmitglieder große, reich verzierte Medaillen in samtverkleideten Kästchen verliehen bekamen, folgte nach relativ kurzer Nachtruhe und einem ungewohnten Frühstück. Es gab Reissuppe, scharfe Gürkchen und Sößchen, Mandarinen, geräucherten Tofu sowie – westlichem Geschmack entgegenkommend – einen Berg Toastbrot. Merkwürdigerweise klemmten sich alle am Tisch dieses Toastbrot zwischen die Stäbchen und schmierten – ebenfalls mit Stäbchen – das süßlich-scharfe Mus darauf, wodurch chinesische Varianten der mitteleuropäischen Klappstulle entstanden.

Inzwischen hätte es Tag werden müssen. Doch es blieb einfach dunkelgrau, übrigens während des ganzen Golden Rooster & Hundred Flowers Film Festivals. Das wäre weiter nicht schlimm gewesen, hätte man nicht bei jedem Gang nach draußen das Gefühl gehabt, die Garage eines unentschlossenen Selbstmörders zu betreten. Die Belegschaft des benachbarten US-amerikanischen Kaufhauses störte sich daran nicht weiter: in adretten, gelb-grünen Uniformen versammelten sich einige hundert Verkäuferinnen und Verkäufer zum morgendlichen Tai'chi auf dem Bürgersteig. Das sah fast so elegant aus wie das Ballett am Vorabend. Währenddessen wurden an die Delegation üppige Geschenktüten verteilt: jede Menge Hochglanzprospekte und Kataloge, Anstecker, Teetassen mit Festivalemblem, eine Festivalbriefmarkensammlung, Souvenirkärtchen mit Stadtansichten, Festivalbriefumschläge und Postkarten. Alles sehr schön, doch suchten wir vergeblich nach einem Programm.

Das befand sich lediglich als Fotokopie in der Handtasche der Delegationsleiterin, da die für uns bestimmten Filme im voraus festgelegt waren. Zunächst gab es „Der Lange Marsch“, ein Epos mit einer beeindruckenden Anzahl von Komparsen und einem menschelnden, jungen Mao-Double. Eine chinesische Filmexpertin, die nach eigenen Aussagen schon sehr viele Filme über den Langen Marsch gesehen hatte, fand den Film im Vergleich zwar gut, aber nicht sehr gut. Die zahlreichen Angestellten der Chong Qinger Bank of China, die im Kino den gesamten Mittelblock besetzten, schwangen dagegen zum Schlußapplaus begeistert ihre einheitlichen Basecaps.

Nach der Vorstellung liefen wir erst einmal durch die Stadt: durch Baustellen über Baustellen über Baustellen. Und zwar so gigantische, daß man das ganze Hemdhochheben rund um den Potsdamer Platz nicht mehr kapiert! Der würde nämlich in Chong Qing gar nicht weiter auffallen!

Seit die Stadt am Zusammenfluß von Jangtse und Jialing vor wenigen Jahren den Status „regierungsunmittelbar“ bekam, hält der Fortschritt mit Gewalt Einzug. Sämtliche alten Wohnviertel werden abgerissen, und im Städtischen Museum kann man die fertige Skyline vom Jangtse aus als Computersimulation betrachten. Selbst Manhattan wirkt dagegen überschaubar.

Chong Qing ist das neue wirtschaftliche Zentrum von Szechuan – außer der chemischen Industrie, der Stahl-und Eisenindustrie wurden dort allein im vergangenen Jahr 0,161 Millionen Automobile sowie 1,77 Millionen Mopeds hergestellt. Da einem in China die Zahlen schnell über den Kopf wachsen, wandten wir uns überschaubareren Dingen zu und besichtigten ein brandneues französisches Luxuskaufhaus, in dessen Lebensmittelabteilung unter anderem hölzerne Diplomatenkoffer verkauft werden, in denen sich plattgeklopfte, geräucherte Spanferkel befinden. Während wir noch darüber rätselten, wer sich in China bloß all diese irrsinnig teuren Handtaschen und Designerkostümchen leisten kann, hatte sich vor dem Haupteingang eine Menschenmasse versammelt. Auf einem improvisierten Laufsteg wurden Brautmoden und Techno-Tutus in schrillen Farben mit passenden Perücken präsentiert.

Vor der Baustellenkulisse gegenüber wirkte die Szenerie wie eine bizarre Performance, nach der sich jeder europäische Kurator die Finger geleckt hätte. Doch die kommen bislang noch nicht nach Chong Qing, da man dort mit der Kultur, so ein Experte vom Tourismusministerium, noch ein wenig hinterherhinke. Deswegen sei Chong Qing ja auch Gastgeber des Festivals und die ganze Stadt mit riesigen Luftballons und wehenden Filmparolen geschmückt worden. Tatsächlich hatte man keine Mühen gescheut, das Ereignis zu einem unvergeßlichen zu machen. Allerdings eher durch das Begleitprogramm denn durch die Filme, die schwerpunktmäßig von großen Männern wie Mao, Zhou Enlai, Zar Alexander, Dschingis Khan oder einem camp-mäßigen Pharao handelten und diese – jeweils historisch einfühlsam rekonstruiert – beim Problemlösen, Kriegführen oder Reiten zeigten.

Am filmfreien Sonntag besichtigten wir die Hauptsehenswürdigkeit von Chong Qing: ein Konzentrationslager, in dem während des Zweiten Weltkriegs etwa 200 chinesische Kommunisten von der Kuomintang brutal gefoltert und schließlich verbrannt worden waren. Wie bestellt wurde bei der Ankunft erst mal die Internationale abgespielt. Vor dem großen Denkmal lungerten einige hübsche junge Damen herum, Anglistikstudentinnen, wie sich herausstellte, die gelbe Schärpen trugen, auf denen vorne auf chinesisch, hinten auf englisch „Welcome“ stand. Sogleich kamen wir ins Gespräch und wurden gefragt, ob wir überhaupt wüßten, wo wir wären. Sogleich wurden wir über die Geschichte des Ortes und seine revolutionäre Bedeutung für das heutige China aufgeklärt.

Dann sahen wir uns die Wandgemälde mit abstrakten Blutflüssen an und wohnten einer Diorama-Show bei, in der die letzten Tage des Konzentrationslagers mit bedrohlichen Licht- und Toneffekten nachgestellt wurden. Es knallten die Schüsse, es flackerte das Feuer, es hallten die Schreie. Wir suchten das weite und trafen auf der Straße eine der Studentinnen wieder, allerdings ohne Schärpe, was sie mit den Worten „The movement is over“ erklärte. Sie sah aus, als wolle sie shoppen gehen oder sich schon mal für die Disco fertig machen. Davon gibt es einige in Chong Qing, im City Lights zum Beispiel ähnelt die Klangfarbe unserem Radio Energy, und die Garderobe der Gäste ist der hiesigen vergleichbar. Doch manches Ritual war mir fremd, beispielsweise das Headbanging am Tisch, der Verkauf von riesigen Plüschtieren und die Tanzpausen, die durch Polonaisen aller Tanzwilligen nach etwa 20 Minuten beendet wurden. Was ich überhaupt nicht verstand, war die handschriftliche Mitteilung, die mir auf der Tanzfläche von einem Unbekannten zugesteckt wurde: „When I first met you, it feels like an old friend“, stand auf der Rückseite einer Whiskey-Werbung mit Gong Li. Dieses Rätsel konnte ich ebenso wenig auflösen wie die peinliche Situation bei einem Abendessen, wo alle, die mit dem Schauspieler- Double von Zhou Enlai an einem Tisch saßen, unablässig um Autogramme gebeten wurden.

Schließlich war der Tag der Abschlußzeremonie gekommen. Theoretisch hätte ich es für unmöglich gehalten, die Eröffnungszeremonie an Pracht noch zu überbieten, doch in Wirklichkeit waren die Kostüme noch imposanter, das Ballettensemble noch größer und die Reden noch etwas länger geworden. Diesmal wurden Szenen aus erfolgreichen aktuellen Filmen nachgetanzt. Was dazu führte, daß zuerst Szenen aus „Der Lange Marsch“ mit hölzernen Maschinenpistolen zu sehen waren und etwa 15 Minuten später eben jene Tänzerinnen und Tänzer die im Bühnennebel Ertrinkenden nachempfanden, während über ihnen auf der Spitze der „Titantic“ Leonardo Di Caprio und Kate Winslett mit einer chinesischen Hommage geehrt wurden.

Zur großen Überraschung gewann am Ende aber nicht „Der Lange Marsch“, sondern die derzeit sehr populäre, etwas rustikale Kömodie „To be or be square“ den großen Preis des Festival: ein Film, in dem sich Inlandchinesen herzlich über neuamerikanische Auslandchinesen amüsieren. Das ist bestimmt wieder so ein Zeichen, über dessen Bedeutung man spätestens im bevorstehenden Jahr des Hasen lange nachdenken müßte.