Fun und Futter im Geiste der Funktionalität

■ Grand Opening einer exklusiven Weltsensation auf dem Gebiete der standardisierten Unterhaltung: das Erwin Entertainment Center für Mensch und Tier am Spielbudenplatz

An einem verregneten Adventssonntag zeigt die Reeperbahn ihr traurigstes Gesicht. Die vierspurige Durchgangsstraße führt dann hastig vorbei an blasser Leuchtreklame, matschigen Döner-Fladen und den Übriggebliebenen der vergangenen Stunden. Nach dem Touri-Auftrieb vom Wochenende herrscht hier wie jeden Sonntag kalte Katerstimmung. Großstadtdepression – wenn du sie nicht hast, bekommst du sie hier.

Ein idealer Tag also für das Grand opening einer exklusiven Weltsensation auf dem Gebiete vollstandardisierter Unterhaltung! Am Rande des verwaisten Spielbudenplatzes, schräg gegenüber der Davidswache, eröffnete gestern das „Erwin En-tertainment Center“, kurz EEC, die erste Bedürfnisinstallation für Mensch und Tier.

Initiator der Aktion ist Jürgen Speidel. Der Multimediakünstler zeigt sich als Visionär, was die Angleichung des bedürfnisbefriedigenden Verhaltens von Mensch und Vieh anbelangt. Dort Fun, hier Futter – für Speidel in Zukunft kein Problem mehr. Stolz verweist er auf den Komfort der aufgestellten originalen Rinder-Freß-Liege-Boxen („1,25 m breit ist artgerecht“) und rühmt die Funktionalität der DIN-genormten Getränkeautomaten („Alle kaputt“). Dazu läuft ein informatives Werbe-Video eines Agrartechnik-Unternehmens. Fres-sen und Melken von Turbokühen, höchst effizient.

Seit über einem Jahr versucht Speidel nun schon, die alten Diskothekenräume hinter dem Steakhaus zu einem Ort der Kunst zu machen. Dabei wurde er recht bald auf ein Reizthema vor Ort gestoßen. Die Umwandlung St. Paulis in einen Unterhaltungs-Themenpark mittels Großprojekten, wie dem in der Nähe des Millerntorplatzes geplanten „Urban Entertainment Center“, brachten Speidel auf die Analogie mit der Viehhaltung. Der Umgang mit Milchkühen erinnere ihn an das, was in Zukunft auf dem Kiez geschehen soll. Auch hier folge man dem Prinzip der Agrarindustrie: „Die Touristen werden wie Milchviecher erst gefüttert und dann gemolken. Alles wird standardisiert, die Vielfalt geht verloren.“

Darum gibt es im EEC „schon heute Unterhaltung für den Anspruch von morgen“. Wechselnde DJs, allerhand Performance und ein Radioweltsatellitenempfänger sollen bis Ende des Jahres für Kurzweil sorgen und zum Gedankenmachen anregen. Ob die Aktion tatsächlich so lange dauern wird, ist dennoch fraglich. Bis zuletzt kämpften Speidel und MitarbeiterInnen der GWA-St. Pauli gegen alle Widerstände seitens der Behörden und Willi Bartels. Der Noch-Besitzer der leerstehenden und im Januar ohnehin abzureißenden Schuppen hat vor kurzem sein Einverständnis für die Aktion widerrufen. Ob der Kiez-König nochmal Gnade vor Recht ergehen läßt, bleibt zu hoffen. Nächstes Jahr wird der Spielbudenplatz dann endgültig frei sein, für was immer da kommen mag. Michael Hess

geöffnet ist das Erwin Entertainment Center donnerstags bis sonntags von jeweils 21 bis 2 Uhr – wenn nichts dazwischenkommt