Surabaya ruft täglich nach „Reformasi“

In Indonesiens zweitgrößter Stadt, Surabaya, wird immer wieder bekräftigt, sie sei „anders als Jakarta“. Doch das klingt wie eine verzweifelte Beschwörung. Denn auch Surabayas Gesellschaft droht ins Chaos abzugleiten  ■ Aus Surabaya Jutta Lietsch

Große handgemalte Filmplakate über dem „Mitra“-Kino kündigen einen neuen Streifen der populären indonesischen Schauspielerin Christine Hakim an. Doch die fünfzig Frauen, die sich sich an diesem Morgen vor dem Kino versammelt haben, sind nicht zu ihrem Vergnügen hier: „Reformen ja, Gewalt gegen Frauen nein“, skandieren sie.

Zum Protest aufgerufen hat das nationale Netzwerk der indonesischen Prostituierten. Sie tragen schwarze Hosen und schwarze Blusen, ins Stirnband haben sie sich eine lila Blüte und ein Papierfähnchen in den weißroten Nationalfarben Indonesiens gesteckt.

Unter den Augen von Zuhältern, verblüfften Passanten und Abgesandten aus anderen Frauenorganisationen der Stadt tragen die Demontrantinnen Gedichte vor über das Schicksal mißhandelter Frauen, über alltägliche Gewalt und Diskriminierung, die Angst vor Aids und Vergewaltigung. Eine Theatertruppe führt Sketche auf. Schließlich verneigen sich alle zum Gebet.

Es ist eine der vielen Aktionen in Surabaya, der großen Hafenstadt im Osten der indonesischen Hauptinsel Java. Hier reagieren die Menschen mittlerweile fast gelassen auf die täglichen Demonstrationen von Studenten gegen die Regierung im fernen Jakarta, sie schauen kaum noch hin, wenn wieder ein Lastwagen mit streikenden Arbeitern durch die Straße fährt. Nicht nur in Jakarta ist die Reformbewegung aktiv: Ob in Bandung oder Medan, Denpasar, Yogyakarta oder Surabaya – allenthalben demonstrieren StudentInnen, wehen Transparente, eröffnen neue Parteibüros.

„Pro Reformasi“-Banner hängen in Surabaya an vielen Geschäften und sogar an einigen Polizeistationen. Es ist eine weitläufige und traditionsreiche Handelsstadt von über drei Millionen Menschen, mit zahlreichen Hochschulen und dem größten Krankenhaus Javas. Im Hafen dümpeln die aus Ex-DDR- Beständen gekauften Kriegsschiffe. Ein aufgedocktes U-Boot im Zentrum der Stadt dient als Touristenattraktion. Vor wichtigen Gebäuden – Parlament, Rathaus, Polizeistation – lungern Soldaten, darunter die „Marinirs“ mit ihren weithin sichtbaren rosa Baretten.

Einige Einkaufszentren lassen sich den militärischen Schutz etwas kosten: Für rund 3.000 Mark am Tag stellt die Armee zwei Panzerwagen mit Besatzung zur Abschreckung vors Kaufhaus. Kluge Geschäftsleute spenden zudem hin und wieder ans Militär, damit die Soldaten auch wirklich eingreifen, falls es in Surabaya einmal zu Unruhen kommt.

Doch bislang blieb die Stadt von schweren Zusammenstößen verschont. Das politische und soziale Klima scheint hier entspannter als in der Hauptstadt. Deren Bewohner sind seit den Schüssen der Militärs auf demonstrierende Studenten und den Kirchenbränden und Lynchmorden an Christen und ethnischen Minderheiten tief verängstigt. „Wir spüren die Wirtschaftskrise nicht so scharf wie die Menschen in Jakarta“, erklärt der Anthropologe Dede Oetomo den Unterschied.

Der Grund: In die Hauptstadt war in den Jahren des Booms ein großer Teil aller Investitionen geflossen. Millionen Menschen aus allen Teilen des indonesischen Inselreichs verließen damals ihre Dörfer und siedelten sich auf der Suche nach einem Job in den wachsenden Slumgürteln Jakartas an. Nun wissen sie nicht mehr, wie sie ihre Familien ernähren sollen, die Verzweiflung ist explosiv.

Eine weitere Ursache für das entspanntere Klima in Surabaya: Die wichtigsten politischen und religiösen Gruppen „sind toleranter als anderswo“, meint Dede, der an der renommierten Universität Airlangga lehrt. Die gegenüber traditionellem Geisterglauben, Magie und anderen lokalen Sitten aufgeschlossene muslimische „Gemeinschaft der Religionslehrer“ Nahdlatul Ulama (NU) ist zum Beispiel in Surabaya tief verwurzelt. Auch die „Demokratische Partei Indonesiens“ (PDI) hat viele Anhänger in der Stadt.

An der Spitze beider Organisationen stehen OppositionspolitikerInnen, die als liberal und versöhnlich bekannt sind und die immer wieder zur Gewaltlosigkeit aufrufen: NU-Chef Abdurrahman Wahid und Megawati Sukarnoputri, die Tochter des Staatsgründers Sukarno. Doch es gibt Versuche, den Frieden zu stören. Der von Politikern, Geistlichen und Akademikern in der der Stadt oft bekräftigte Satz, Surabaya sei „anders als Jakarta“ klingt inzwischen wie eine verzweifelte Beschwörung.

Denn vielen Menschen sitzt noch die Angst in den Gliedern, die im Herbst eine unheimliche Mordserie in mehreren Städten und Dörfern unweit Surabayas auslöste. Maskierte Männer in schwarzer Kleidung töteten innerhalb weniger Wochen über 250 Menschen. Diese „Ninjas“ kamen bei Tag und bei Nacht, sie erstachen und verstümmelten vor allem ländliche Religionslehrer der NU, aber auch Magier und Geisterseher. Daraufhin bewaffneten sich Dorfbewohner und lynchten ihrerseits zahlreiche Unschuldige. Ende Oktober endete der böse Spuk so plötzlich, wie er gekommen war.

Für den Chef der NU Ostjavas, Choirul Aman, gibt es keinen Zweifel, wer hinter den Ninja- Morden steckt: „Es waren Militärs, angestiftet von Teilen der alten Elite aus der Suharto-Zeit, die Chaos und Angst stiften und Reformen verhindern wollen“, sagt er. Der Beweis? „Sie benutzten Messer, mit denen die Armee ausgerüstet ist.“ Deshalb hätten viele Polizisten auch nicht gewagt, die Mörder zu jagen. Außerdem habe ein gefangener Täter gestanden, „in einem Terrorcamp der Armee in Zentraljava ausgebildet“ worden zu sein.

Was sich zunächst wie wilde Verschwörungstheorien anhört, nehmen viele Oppositionelle in Surabaya bitter ernst. Der Ruf des Militärs ist ohnehin schlecht, und daß der alte Suharto seine Macht ohne Gegenwehr abgeben würde, hält niemand für möglich. Erst kürzlich warnte NU-Chef Wahid Wahid erneut vor schweren Erschütterungen. „Die Lage ist aufgewühlt. Immer häufiger werden Menschen umgebracht, das ist das deutlichste Zeichen für eine Gesellschaft, die auseinanderbricht. Wenn das so weitergeht, stehen wir bald vor einer sozialen Revolution.“

Choirul Amam mit seiner dunklen Brille und dem wirrem Haarschopf gehört zu den einflußreichsten religiösen und politischen Notablen Surabayas. Er ist für seine kritische Haltung gegenüber der Regierung ebenso bekannt wie für seine gute Zusammenarbeit mit den katholischen, hinduistischen und buddhistischen Kollegen.

„Wir haben Schlimmeres verhindern können“, berichtet Choirul. „Als wir hörten, daß sich einige der Ninjas nach ihrer Tat in christliche Kirchen oder zu den Häusern von Chinesen flüchten wollten, wußten wir: Das ist eine gezielte Provokation, um die Bevölkerung gegen Minderheiten aufzuhetzen. Sie wollen auch bei uns die Kirchen brennen sehen. Aber wir haben unsere Mitglieder aufgerufen, die Nachbarn zu schützen – auch wenn sie keine Muslime sind.“

Choirul ist lokaler Spitzenkandidat in der von NU-Chef Wahid gegründeten muslimischen PKB- Partei. In der neuen Parteizentrale in der Musi-Straße versucht er, das Parteivolk auf die Parlamentswahlen im kommenden Juni vorzubereiten. „Die Ninjas haben vor allem NU-Angehörige umgebracht, weil sie glaubten, damit unsere Wahlchancen zu zerstören“, glaubt er. „Aber da haben sie sich verrechnet.“

Zu den Gegnern der NU gehören auch radikale Islamisten, die eine strengere Auslegung des Koran fordern. Unter Suharto mußten sie stillhalten, weil der die fünf von der Verfassung akzeptierten Religionen gleichstellte. Für diese Gruppe bedeutet „Reformasi“, aktiv für einen islamischen Staat zu kämpfen.

Das bekommen auch die Huren von Surabaya zu spüren. Seit dem Sommer tauchen immer häufiger religiöse Demonstranten vor den „Lokalisasi“ auf – so die offizielle Bezeichnung für die Puffs. Sie verteilen Flugblätter, schwenken Transparente, verscheuchen die Freier und fordern die Behörden lautstark auf, die sündigen Orte zu schließen. „Uns geht's schon mies genug seit der Wirtschaftskrise“, sagt die Prostituierte Ida, „sie müssen uns doch arbeiten lassen, wie sollen wir unsere Familien sonst ernähren?“

Häufig stecken private Fehden hinter den religiös bemäntelten Aktionen: Der Eigentümer eines Gebäudes im Örtchen Tetes mobilisierte zum Beispiel die Mitglieder einer islamistischen Gruppe, weil sein Mieter, ein Puffbetreiber, die Pacht nicht mehr zahlen konnte. Mit Hilfe der Mullahs gelang es ihm, den säumigen Zahler zu vertreiben.

In Surabaya haben die Prostituierten nun eine Gegenkampagne gestartet: Sie versuchen die Behörden und die Nachbarn ihrer „Lokalisasi“ für sich zu gewinnen. Sie verteilen zum Beispiel Flugblätter, in denen sie aufzählen, welchen wirtschaftlichen Nutzen ihre Arbeit für den gesamten Bezirk bringt: Arbeit für die Nudel- und Getränkeverkäufer vor dem Bordell, die Motorradrikschafahrer, die Wäschereien und viele andere mehr.

Die 33jährige Sprecherin der Hurengruppe von Surabaya, Wiji: „Wir sind für Reformasi, aber wir sind dagegen, daß die Bordelle geschlossen werden. Wir fragen die neue Regierung: Gehört das zur neuen Ära? Warum laßt ihr es zu, daß wir bedroht werden?“