Im Rausch erfroren

■ Seit Beginn der Kältewelle vor vier Wochen sind in Polen bereits 120 Menschen erfroren

Warschau (taz) – 120 Menschen sind in Polen bereits erfroren. Die ersten vier Wochen mit Temperaturen von bis zu 20 Grad unter Null haben bereits mehr als doppelt so viele Todesopfer gefordert wie im gesamten vorjährigen Winter. Obdachlosenheime sind überfüllt, Suppenküchen geben den ganzen Tag über heiße Getränke und Suppen aus, über eine kostenlose Notnummer können Bürger bei der privaten Obdachlosenhilfe Markot anrufen und auf potentielle Kälteopfer hinweisen. Dies ist um so wichtiger, als die meisten Opfer auf dem Weg von einer Kneipe nach Hause erfrieren: Sie legen sich auf die Straße, um dort ihren Rausch auszuschlafen. Am letzten Wochenende hat die polnische Polizei über 200 Betrunkene aufgelesen und in Ausnüchterungszellen vor dem Kältetod bewahrt.

Viele unterschätzen die Kälte. In Südpolen fand die Polizei einen 16jährigen im Schnee. Nach einer durchtanzten Nacht hatte er in seinem durchschwitzten Trainingsanzug auf den Weg nach Hause gemacht – bei 15 Grad Celsius unter Null. Glück hatte ein Mann, der an einem See im Nordosten Polens eisangelte. Da die Fische nicht so recht beißen wollten, wärmte sich der Mann mit Wodka, bemerkte aber nicht, daß er am Eisloch festfror. Die Polizei mußte den Betrunkenen mit Spitzhacken aus dem Eis hauen. Slawomir Cisowski, ein Polizeisprecher, geißelt den Alkoholmißbrauch bei diesen Temperaturen als „selbstmörderische Verantwortungslosigkeit“. Über 90 Prozent aller bisherigen Kälteopfer in Polen sind nicht etwa Obdachlose, sondern Männer im Alter von 40 bis 60 Jahren, die ein Dach über dem Kopf haben.

Doch auch da sterben die Menschen an Unterkühlung. Am Freitag erfroren zwei Frauen in ihren Wohnungen, da Gas- und Elektrizitätswerk ihnen bereits vor Monaten die Hähne zugedreht hatten. Die Frauen konnten von ihrer Rente weder Strom noch Wasser und Gas bezahlen. Die polnische Regierung hat zunächst fünf Millionen Zloty (2,5 Millionen Mark) für Obdachlose bereitgestellt. Dies ist nötig, löst aber das eigentliche Problem nicht: die Trinkgewohnheiten der Bevölkerung und die zunehmende Verelendung. Immer mehr Menschen in Polen verlieren ihre Arbeit und damit den Boden unter den Füßen. Offiziellen Statistiken zufolge haben über 4 Millionen Menschen keine eigene Wohnung. Die meisten finden bei Verwandten eine Übergangsbleibe. Sozialen Wohnungsbau gibt es kaum, gebaut werden beinahe ausschließlich Eigentumswohnungen, die für Arbeitslose oder Geringverdiener unerschwinglich sind. Gabriele Lesser