Ein Schiff verschwindet im Nebel

■ Lebensbeschleunigende Sternfahrt mit Ringelpullovern: Armin Petras brachte in Leipzig „Auf dem Weg zur Hochzeit“ auf die Bühne, John Bergers Bildungsroman zum Thema Aids

Ein Konzert der Stimmen, eine wahre Metaphernmusik im Rhythmus des Rembeteko, ein Blick auf den Strom des Lebens im Bewußtsein von dessen Endlichkeit durch die Augen des Blinden: John Bergers Roman „Auf dem Weg zur Hochzeit“ handelt von der Beschleunigung unseres Lebens. Ein Reiseroman über Menschen, die durch das Wissen um die Aidserkrankung einer jungen Frau auf eine Selbstbefragungsreise über Lebensziel und wahren Lebenssinn getrieben werden. Zugleich eine Sternfahrt aus ganz Europa zur Hochzeit der Kranken an der Mündung des Po. Ein Roman wie eine Fuge, kunstvoll verschachtelt, klar strukturiert, poetisch verdichtet und zugleich modellhaft philosophierend.

Eine schwierige Vorlage für die Bühne. Mit psychologisch-realistischem Spiel allein ist ihr nicht beizukommen. Also bemüht sich der Regisseur Armin Petras, der die Bühnenfassung selbst hergestellt hat, dem stillen Ton und der merkmalhaft vereinfachten Erzählebene des Romans eine andere entgegenzusetzen. Es wird auf Spaß komm raus inszeniert, die Darsteller spielen ihre Rollen und spielen ironisch mit ihnen. Bloß kein Pathos, nur keine (falsche) Betroffenheit!

Auf der Bühne der Neuen Szene, der kleinen Experimentierspielstätte des Leipziger Schauspiels, schleicht ein Mann mit gebücktem Oberkörper und pendelnden Armen herum, rollt mit den Augen und fingert an seinem rutschenden Oberlippen-Klebebärtchen. Wie aus dem Comic sieht der Koch aus, an dem sich die 24jährige Ninon bei einem one- night stand infiziert: der zu knappe Ringelpullover entblößt den Bauch, auf den er die Speisekarte gemalt hat. Lustig wird Lust gezeigt, wenn Ninon sich, weil sie im Buch ins Meer springt, im Minislip auf den Bühnenboden wirft und trockenschwimmend im Wasserguß aus dem Eimer eines Mitspielers tobt.

Figuren wie aus dem Grobraster auf der Bühne, die Nebenfiguren reduziert auf Effektgeber, deren Haltungen zu Posen verzerrt. Wo Berger ziseliert, hämmert Petras. Das geht gut bei der Figur der Ninon, die von Susanne Buchenberger mit großer Kraft in der Verzweiflung, mit Trauer unter der Lebensgier gespielt und in der festen Schwebe zwischen Comic, Sinnträgerin und realem Menschen gehalten wird.

Gerade soll das wahre Leben, soll die Liebe beginnen, und da die Diagnose: Aids. Den, den sie liebt, will sie nicht mehr heiraten. Doch dieser Gino, erst in der Disco wie ein 50er-Jahre-Ragazzo daherkommend, dann sich als Businessman titulierend und schließlich als frierender, eiszapfenbehängter fliegender Händler entpuppend, er überzeugt sie vom Sinn des Lebens und Liebens im Bewußtsein des Todes. Aids, eine Metapher, was sonst. Kein Aids-Roman, kein Aids-Stück, eher eine Art offener, klassischer Bildungsroman. Dessen Stationen Armin Petras zugleich rafft und ausstellt. Ironische Distanzierungen, Spiel- und Spaßfreude prägen die Inszenierung, so daß sich manche Szenen auch aus dem Erzählfluß ausklinken und einfach nur von sich selbst erzählen. Dann wieder gibt es platte Ewigkeitsmetaphern mit Tiermasken und einem Bild ägyptischer Pyramiden, das herumgereicht wird.

Die Bühne wurde von Natascha von Steiger im eingedunkelten Azurro-Hoffnungsblau gehalten – ein Labyrinth aus Fensterglasfronten, Gittern und Gängen. Hier zeigen Arrangements in der Nähe immer auch die Ferne. Die verlangsamte Beschleunigung, das Treiben im Lebensgefühl realsozialistischer Zeit findet auf einer Filmleinwand über der Bühne statt. Ein Schiff verschwindet im Nebel, ein Rotkreuzfahrzeug, Menschen in Industrielandschaften erscheinen schemenhaft, und Lava glüht im zugleich undeutlichen wie überdeutlichen Filmbild.

Darunter das Slapstick-Spiel, inszenatorisch selbstverliebt verkaspert, aber eigentlich nie wirklich komisch. Szenisches Witzereißen, das wenigstens zum Schluß abgelöst wird von einer stillen Erzählungsweise. Die Hochzeit: noch ein Gag-Konzert der ums Mikrofon versammelten Gäste. Eingerahmt wird sie aber von der gemeinsamen Bootsfahrt der Liebenden, die auf leerer Bühne aus poetischer Stilisierung eine große emotionale Wärme entwickelt. Hand in Hand brechen Ninon und Gino in die offene Weite auf, ein Hoffnungsbild zu „I am sailing“. Hartmut Krug