Arztroman, Folge 3: Mahlzeit! Von Fanny Müller

Die ersten Tage kriege ich noch das Essen aufs Zimmer, aber dann ist Schluß mit lustig, ich esse im Speisesaal. Es ist nicht zu fassen, aber ich bin das Nesthäkchen. Ein Publikum, das man aus Alpträumen kennt: Triefauge mit eingewachsenen Zehennägeln (die bemerke ich später beim „Sport“), der die letzten 60 Jahre Frau und Kinder gequält hat, wobei man an seiner Fresse sieht, daß ihn das auch zu keinem besseren Menschen gemacht hat. Ehefrauen anderer Männer, die automatisch zu seinen Scherzen („Man gönnt sich ja sonst nichts“) lachen. Die Salonschlange. Die Tucke, die sich als Betriebsnudel beliebt machen will. Der Gutsherr von der Privatstation. Die höhere Tochter: in Bad Segeberg geboren, in Bad Segeberg zum BDM gegangen, in Bad Segeberg einen Herzinfarkt gekriegt und bis heute nichts dazugelernt. Es gibt eine Rindfleischsuppe. „Ob das für die Herren...“, die höhere Tochter blickt um sich, „...wohl genug ist?“ Solche Sorgen habe ich mir noch nie gemacht. „Finden Sie nicht auch“, fährt sie fort, „daß einige der Herren doch recht gepflegt zum Essen kommen?“ Mein Blick fällt gerade auf einen, der seine Freizeitjoppe verkehrt zugeknöpft hat. Sie wissen schon, oberster Knopf im zweitobersten Knopfloch. Egal, ob sieben oder siebzig – wenn Mutti nicht da ist, sehen die Jungs immer aus... Übrigens würde ich nie auf die Idee kommen, Männer, die den ganzen Tag „Mahlzeit“ zu einem sagen, als „Herren“ zu bezeichnen.

Es wird viel gelacht, weil alle eine Todesangst haben. Aktivitäten, die zur Angstüberwindung dienen könnten und die man aus der Literatur kennt (Kurschatten), sind allerdings nicht auszumachen. Ich nehme mal an, daß Bypässe und Herzschrittmacher einen nicht gerade zum Poussieren ermutigen. Dafür wird aber viel geredet, und keiner hört zu. Gesprächsthemen sind geschlechtsspezifisch vorgeschrieben. A. Mein Sohn ist Zahnarzt. B. Ich hatte 40 Leute unter mir. Da kann ich nicht mithalten. Unter 200 Menschen müßte es aber doch mindestens einen geben, mit dem man mal ein vernünftiges Wort wechseln kann. Gibt's aber nicht. Und wie sollte ich das auch rausfinden? Ich kann mir ja schließlich kein Schild um den Hals hängen „Hallo, ich war nicht in der Hitlerjugend und habe einen IQ über 80 – ist da noch jemand?“

Also wieder aufs Zimmer und sich mit der Gegend vertraut machen. Am besten mit Hilfe des hiesigen Anzeigenblatts der reporter. In der nächstgelegenen Kreisstadt hat eine Ausstellung stattgefunden: „Glanzvolle Vorstellung des ,Coupés der Gefühle‘ – Travag- Show begeisterte“. Fred A. Schäfer, der Leiter des Travag-Unternehmens, bezeichnet das neue Audi TT Coupe „liebenswert als ,Coupé der Gefühle‘“. Mit dieser Autokiste, die „sowohl eine optische als auch finanzielle Kampfansage bei 52tsd DM“ sei, habe Audi einen Volltreffer gelandet. „Dieses Auto, so schwärmte auch der Bezirksleiter der Audi AG – (Überraschung!) –, verkörpere Faszination, biete Fahrsicherheit plus individuellem Flair.“ O Gott. Des weiteren sind drei Damen abgebildet, die die Autoschau mit ihren „zauberhaften Stickereien, liebenswerten Strohgestecken und formvollendeten Keramiken ...bereicherten“. Also Kunsthandwerk at its best, zum Blindwerden. Wie ich das hier noch zwei Wochen aushalten soll, weiß ich auch nicht.