Zentralrat der Haschrebellen

■ Die große Geschichte in der kleinen: Lutz Schulenburgs 68er Dokumentation „Das Leben ändern, die Welt verändern!“

Es ist eines dieser Jubiläen, die beinahe schon in Vergessenheit geraten sind. Nachdem im Revolutionsmonat Mai auf allen Kanälen des mythischen Jahres der Revolte gedacht wurde, bereitet man sich jetzt wohl schon auf 250 Jahre Goethe oder gleich das Millennium vor. Gegen diese Vergeßlichkeit stellt Lutz Schulenburg kurz vor Ablauf der 30-Jahres-Frist seine Textsammlung Das Leben ändern, die Welt verändern! 1968 – Dokumente und Berichte noch einmal zur Diskussion. Auf fast 500 Seiten hat Schulenburg Zeitdokumente eines gesellschaftlichen Aufbruchs zusammengestellt, der vor Landesgrenzen nicht Halt machte.

Da tauchen Betriebskämpfer aus Barcelona, Arbeiter-Banditinnen aus Turin ebenso auf wie der Club Voltaire im „vorrevolutionären Stuttgart“. Europaweit, wenn nicht weltumspannend – und das ist das große Plus dieser Textsammlung – gerät das Aufbruchsjahr ins Visier, um die unterschiedlichen Strategien beim Kampf gegen den militärisch-industriellen Komplex – oder wie das in jenen Jahren auch immer hieß – zu veranschaulichen. Manches klingt heute rührend, wie etwa die Presseerklärung des SDS Hamburg, die Wortungetüme der Kritischen Theorie und anderen Revolutionssprech anhäuft. Manches krude, wie jenes Wörterbuch der Vandalisten aus Bordeaux, laut dem Professoren und Pfaffen, aber auch Kriegsdienstverweigerer künftig „Bullen“ heißen und statt „Guten Abend, Papa“ fürderhin „Krepier, du Schwein!“ gesagt werden soll. Manches nurmehr komisch, wie der Erfahrungsbericht des „Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen“.

Allerdings folgt Schulenburg im Ganzen einem ziemlich fragwürdigen Ansatz. Indem er immer wieder biographische Notizen zwischen die Zeitdokumente packt, will er den Eindruck vermitteln, daß sich die große Erzählung in der kleinen abbildet. Dabei ist das Verhältnis von Weltenlauf und Biographie wohl um einiges komplexer angelegt. Außerdem fehlt dem Konvolut ein angemessener bibliographischer Apparat, der Auskunft darüber geben könnte, wer und in welchem Zusammenhang vor 30 Jahren revolutionär fühlte. Oder wissen Sie etwa, wer Elisabeth Lenk ist, die Adorno – ja: Theodor W. – in einem stilsicheren Brief von ihrem revolutionären Rauschzustand und ihrer Polizeineurose berichtete?

Volker Marquardt

Lutz Schulenburg (Hg.): „Das Leben ändern, die Welt verändern! 1968 – Dokumente und Berichte“, Internationale Bibliothek Bd.5, Edition Nautilus, Hamburg 1998, 480 Seiten, 39,80 Mark

Lesung: heute, 20 Uhr, FAU-Zentrum, Thadenstraße 118