Ein Mißverständnis

Mit Apfelmännchen und indischen Schmetterlingen ist die Chaosforschung populär geworden. Doch so revolutionär, wie sie stets präsentiert wurde, war sie gar nicht. Daß es unvorhersagbare Ereignisse gibt, ist ein alter Hut. Eine Modekritik  ■ von Gerhard Weinreich

Chaosforschung ist ein faszinierendes Gebiet, das die Wissenschaft um viele überraschende Erkenntnisse bereichert hat. Außerhalb der scientific community mutierte sie leider einige Jahre lang zu einer pseudointellektuellen Modeerscheinung. Sie besaß ein hohes Ansehen, das ihr jedoch trotz aller Verdienste nicht gebührt. Auf den ersten Blick erscheint es schon erstaunlich, wie es dazu kommen konnte, daß all die Apfelmännchen und indischen Schmetterlinge in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gelangten, denn gewöhnlich verschreckt man eher das breite Publikum mit Berichten aus dem Elfenbeinturm.

Die Chaosforscher haben allerdings gegenüber ihren Kollegen den Vorteil, daß sie nicht nur über Dinge erzählen können, unter denen sich der Laie etwas vorzustellen vermag, sondern auch von Sachen, die sich in unserer Alltagswelt zutragen. Das Wetter verhält sich ebenso chaotisch wie die Ausbreitung von Epidemien; man entdeckte Chaos beim Schlagen des Herzens und beim Speichern von Informationen im Gehirn; man erklärte die Populationsdynamik von Raubtieren und Beutetieren mit chaotischen Modellen; Börsen reagieren chaotisch, mitunter auch Planeten und Flüssigkeiten.

Die universellen Charakteristika – die erklären, daß Chaos in der Meteorologie, in den Wirtschaftswissenschaften, in der Medizin, in der Biologie, in der Mathematik, in der Physik und in der Chemie stattfindet – taten ein weiteres, um den Reiz der Chaosforschung zu erhöhen.

Ein anderer Grund für die Popularität des Chaos lag darin, daß die Forscher das Publikum nicht mit irgendwelchen Zahlenwerten langweilten, sondern mit hübschen Bildern zu argumentieren wußten. Bizarre Motive, die sich in kleinsten Details wiederholen, und wunderliche Landschaften, die aussehen, als wären sie von einem fernen Planeten, gaben der Chaosforschung einen ästhetischen Ausdruck, der bisher für die scheinbar trockene Wissenschaft für unmöglich gehalten wurde.

Ausstellungen kamen zustande, in denen nur Bilder dieses neuen Zweiges hingen. Eine dieser Ausstellungen reichte das Goethe-Institut in vielen Ländern herum; es kam sogar vor, daß ein Physiker für seine Bilder einen Kunstpreis gewann.

Das außerordentliche Ansehen der Chaosforschung ist vor allen Dingen aber der raffinierten Art der Forscher zuzuschreiben, wie sie ihr Treiben in den letzten zwanzig Jahren verkauften. Zunächst schufen sie für ihre Disziplin einen Fachbegriff, indem sie ihn der Alltagssprache entlehnten – ein in der Wissenschaft ungewöhnlicher Vorgang. Auf diese Weise erreichten sie, daß Laien hellhörig wurden, auch wenn das nicht in erster Linie ihre Absicht gewesen war.

Der Begriff „Chaos“ vermittelt einen spannenderen Eindruck als der korrekte Begriff der „Nichtlineare Dynamik“, den die Chaosforscher heute erfreulicherweise mehr und mehr verwenden. Gleichzeitig haben die Wissenschaftler bei ihren Adressaten Assoziationen geweckt. Denn unter dem Wort Chaos kann sich jeder etwas vorstellen.

So wird dem Laien suggeriert, daß sich die Chaosforschung mit der Auflösung aller Ordnung beschäftige, mit der totalen Unvorhersagbarkeit der Dinge. Daß dem nicht so ist, läßt sich am besten anhand des Wetters zeigen, denn mit Chaos im Sinne der Alltagssprache hat es nicht das geringste zu tun – schließlich hat sich die Natur darauf eingerichtet, daß das Wetter eine Größe ist, mit der sie rechnen kann: Im Mai blüht der Flieder, im Juli der Lavendel, und im September können die Kinder Kastanien von der Erde auflesen – jedenfalls in Mitteleuropa.

Das Verdienst der Chaosforscher besteht in der Erkenntnis, daß das Wetter nicht exakt vorhersagbar ist. In gewissen Grenzen aber schon. So weiß ich bereits jetzt, daß es in unseren Gefilden am 10. Juli nächsten Jahres weder minus zwanzig noch plus sechzig Grad sein werden; auch weiß ich, daß ich an diesem Tage keine Heizung anzuschalten brauche. Meine Unkenntnis beschränkt sich nur darauf, daß ich nicht weiß, ob ich ein Hemd mit kurzem oder langem Arm anziehen muß und ob ich eine Sonnenbrille oder einen Regenschirm tragen werde.

Dieses Unwissen ist gegenüber dem Wissen, was ich jetzt schon über den 10. Juli des kommenden Jahres habe, verschwindend gering – also von Chaos im Sinne der Alltagssprache keine Spur. Im übrigen ist der Begriff Chaos erst im nachhinein auf das Wetter angewandt worden, denn in dem Artikel von 1963, in dem Edward Lorenz erstmals auf die prinzipielle Unmöglichkeit einer exakten Wetterprognose hinweist, fehlt das Wort Chaos.

Die Chaosforscher versäumten in ihren populärwissenschaftlichen Büchern und in ihren Zeitschriftenartikeln, dem Publikum mitzuteilen, daß ihr Thema nicht das absolute Unwissen, sondern lediglich ein eingeschränktes Wissen ist. Statt dessen gefielen sie sich in Phrasen wie „Das Chaos ist die Quelle der Ordnung“. Dergleichen im entsprechend hohen Ton der Überzeugung vorgetragen, klang für den einen oder andern zeitweise sehr klug.

Zuweilen schreckten die Chaosforscher nicht einmal davor zurück, selbst einem Fachpublikum Sand in die Augen zu streuen. So begann einmal ein bekannter Chaosforscher seinen Vortrag vor Physikstudenten mit den Worten: „Ich bin kein experimenteller Physiker, ich bin kein theoretischer Physiker. – Ich bin ein nichtlinearer Physiker.“ Die Aufhebung der anerkannten Zweifaltigkeit der Physik zu verkünden, indem man die nichtlineare Physik außerhalb von ihr ansiedelt, kommt purer Demagogie gleich.

Auf jedem Umschlagtext eines populärwissenschaftlichen Buches darf die Bemerkung nicht fehlen, die Chaosforschung sei eine der letzten großen wissenschaftlichen Revolutionen; um diese Behauptung noch zu unterstreichen, wird die Chaosforschung kurzerhand zur Chaostheorie geadelt – denn daß Theorien revolutionär sind, weiß der Laie spätestens seit Einsteins Relativitätstheorie. Da indes noch keinem Chaosforscher die Ehre eines Nobelpreises zuteil wurde, kann man getrost davon ausgehen, daß ihr Metier nicht so revolutionär ist, wie sie oder ihre Verleger so gerne dem Publikum glauben machen.

Die Nichtbeachtung durch das schwedische Nobelpreiskomitee überrascht bei näherem Betrachten nicht, denn die Idee, daß es unvorhersagbare Ereignisse gibt, ist in der Physik – um im Modejargon zu bleiben – ein alter Hut. So sagt die in den zwanziger Jahren von Werner Heisenberg entdeckte Unschärferelation aus, daß man über ein Atom prinzipiell nur ein unvollständiges Wissen haben kann. Noch hoffnungsloser stellt sich die Lage beim schon seit über hundert Jahren bekannten radioaktiven Zerfall dar: Zwar kann man für eine Gesamtheit von Uran-Atomen sagen, wann die Hälfte von ihnen zerfallen sein wird, aber über den Zerfall eines einzelnen Atoms sind keine Angaben möglich.

Es ist schade, daß die Autoren populärwissenschaftlicher Literatur mehr Wert legten auf Effekthascherei als auf die Mühen ehrlicher Aufklärung und daß ihnen spontaner Beifall offenbar wichtiger war als verständige Anerkennung. Die Chaosforschung hätte sicherlich sogar dann öffentlichen Anklang gefunden – wenn auch nicht in diesem überwältigenden Maße –, sofern man die Tonlage ein wenig tiefer angesetzt und dem Publikum mitgeteilt hätte, worum es wirklich geht.

Moden kommen und gehen; von Zeit zu Zeit wiederholen sie sich sogar. Dies könnte schon bald für die Chaosforschung zutreffen. Bisher beschränkte sie sich darauf, chaotisches Verhalten zu erkennen und zu klassifizieren; auf Anwendungen wartete man vergebens. Allmählich jedoch sind die ersten praktischen Umsetzungen in Sicht. Wie so oft, ist die Raumfahrt der Vorreiter.

Die Nasa nutzte die Möglichkeit von chaotischen Bewegungen, um eine Raumsonde zu einem fernen Kometen zu schicken: Eingedenk dessen, daß sich winzige Störungen in einem chaotischen System gigantisch auswirken können, benötigte man nur minimale Korrekturen, um das Ziel zu erreichen. Auf diese Weise sparte die Raumsonde wertvollen Treibstoff ein.

Des weiteren wäre die Luftfahrtindustrie eine Sorge los, wenn man Gegenmaßnahmen treffen könnte für das sogenannte Flügelflattern, das im ungünstigsten Falle zum Abbrechen der Tragflächen führt. Gelingt es ferner, das menschliche Herz besser zu verstehen, kann der Arzt leichter entscheiden, ob und wann der Patient einen Herzschrittmacher benötigt.

Die Chaosforschung ist also nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine sinnvolle Disziplin, die wieder im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen wird, sobald die ersten Anwendungen von Erfolg gekrönt sein werden. Hoffentlich fällt dann die Berichterstattung über die Ergebnisse ein wenig sachlicher aus.

Gerhard Weinreich, 33, Physiker, lebt in Dortmund