Rebellion der Hoffnungslosen

„Mittwoch auf die Straße!“ Diese Parole kursierte in den Tagen vor dem 5. Oktober 1988 in Algiers Armeleuteviertel Bab al-Oued. Am Tag X errichten Jugendliche Barrikaden und zerstören Büros der Nationalen Einheitspartei. Später weitet sich die Revolte auf das ganze Land aus. Die Staatsführung reagiert hysterisch. Soldaten schießen auf Demonstranten, verhaften Studenten und foltern sie. Hintergründe zehn Jahre nach den Ausschreitungen, die das Ende des Einparteiensystems einleiteten  ■ Von Reiner Wandlr

Der 5. Oktober 1988? Es reicht dieses Datum nur zu erwähnen, und schon reden alle durcheinander. Der alte Lederball, dem sie eben noch nachjagten, ist plötzlich unwichtig. Jeder Fußballspieler auf dem engen Hinterhof der Cité Lotifi will seine Geschichte über die Rebellion der algerischen Jugend erzählen, egal wie alt er damals war.

Nur direkt beteiligt war angeblich keiner. Damals, als Ämter und staatliche Geschäfte in Flammen aufgingen. Noch zehn Jahre später herrscht in Bab al-Oued Angst. Im ärmsten Stadtteil Algiers bezahlten Hunderte von Jugendlichen die Aufmüpfigkeit mit dem Leben.

„Das war keine Rebellion gegen die hohen Griespreise, wie immer behauptet wird. Wir hatten einfach die Schnauze voll“, sagt Muhammad in gebrochenem Französisch. Der Schulabbrecher, der seinen Lebensunterhalt mühsam mit dem Verkauf von Zigaretten bestreitet, war 1988 gerade dreizehn Jahre alt.

Er war nur Zuschauer. Trotzdem sind ihm die Soldaten, die plötzlich das Feuer eröffneten, noch gut in Erinnerung. Bis heute weiß keiner genau, wie viele Menschen starben. Unter denen, die damals um ihr Leben rannten, war Muhammads älterer Bruder, der heute in den USA lebt.

„Du brauchst dich hier nur umschauen, dann weißt du, warum es losging“, unterbricht Jussef Muhammads Erzählung. „Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit sind die größten Probleme.“ Der 34jährige Postarbeiter trägt wie alle hier einen Trainingsanzug, dazu amerikanische Sportschuhe. Gefälschte Markenartikel aus dem benachbarten Tunesien. Jussef ist mit seiner Frau und seinen sechs Monate alten Zwillingen in der Zweizimmerwohnung seiner Schwiegermutter untergekommen.

Da geht es seinem Freund Nisar noch schlechter. Zwar hat auch er Arbeit, aber die zehntausend Dinar (etwa dreihundert Mark) reichen nicht, um eine Wohnung zu bezahlen. „Und zu Hause sind wir bereits acht. An Heiraten ist somit nicht zu denken“, sagt Nisar, der auf der Küchenbank schläft. Dabei zählt die Cité Lotifi noch zu den besseren Adressen. In den Blocks weiter oben am Hang wohnen bis zu zwölf Personen in einem Zimmer. Sie müssen abwechselnd schlafen. Wer wach ist, treibt sich auf der Straße rum.

Siebzig Prozent der Algerier sind jünger als dreißig. Nirgends ist das so auffällig wie in Bab al-Oued. „Hidistes“ nennt der Volksmund die arbeitslosen Jugendlichen, die den ganzen Tag an Häuserwänden stehen und die Zeit totschlagen. Alle Kinos im Stadtteil sind nach Bombenanschlägen geschlossen. Die Eintrittspreise könnte sich ohnehin niemand leisten.

„Heute geht es Jugendlichen noch schlechter als vor zehn Jahren“, sagt Jussef. Warum es trotzdem nicht wieder brennt? Jussef zieht die Augenbrauen hoch und antwortet knapp: „Wir haben Angst.“ Wie er haben die meisten resigniert. Sie hofften auf die Islamische Heilsfront (FIS) als Gegengewicht zur Einheitspartei FLN. 1992, nach ihrem Wahlsieg, wurde die FIS jedoch verboten.

Nicht nur in Bab al-Oued erhielten islamistische Untergrundgruppen Zulauf. Doch deren Mitglieder werden verfolgt. „Wer immer getreten wird, tritt zurück“, sagt Muhammad verständnisvoll. Keiner widerspricht ihm.

„Wir sind hier doch eingesperrt“, schimpft der Zigarettenverkäufer, der gerne seinem Bruder in die USA folgen würde. Doch Visa, egal wohin, gibt es kaum noch. Drogen und Satellitenfernsehen sind die einzigen kleinen Fluchtmöglichkeiten. Verzweifelt klammert sich Muhammad an Gerüchte. So will er von einer Mafiagruppe erfahren haben, die für hunderttausend Dinar jedes Visum beschafft – was dem durchschnittlichen Jahreslohn eines algerischen Arbeiters entspricht.

Es gibt auch ganz andere Blickwinkel: „Oktober 88? Das war der Anfang vom Ende“, wettert Amée. Die 21jährige lebt mit ihren Eltern in einem geräumigen Einfamilienhaus mit Vorgarten im Stadtteil Kuba. Sie ist das, was ihre Altersgenossen in Bab al-Oued verächtlich tchi-tchi nennen: Eine, der alles in die Wiege gelegt wurde. Die Jurastudentin mit Pagenschnitt muß sich nicht wie ihre Kommilitonen in den überfüllten Bus zwängen. Sie fährt im eigenen Auto zur Universität.

„Bis vor zehn Jahren war alles gut, dann begannen hier in Algerien die Probleme“, meint sie, obwohl sie von jenem 5. Oktober kaum mehr Erinnerung hat, als daß es ihr elfter Geburtstag war. Ein Fest ihrer behüteten Kindheit. Amée lebte damals in Baraki, einem Dorf außerhalb der Stadt. Ihr Vater, Veteran des Unabhängigkeitskrieges, hatte es als Importhändler zu Wohlstand gebracht.

„Viele haßten ihn dafür“, sagt die junge Frau, die sich nur zu gut an jene Nacht im November 1995 erinnert, als Wohnhaus und Lagerhallen ihrer Familie in Brand gesteckt wurden. „Vermutlich Islamisten“, sagt Amée mit verächtlichem Unterton. Die Familie zog um. „Papa arbeitet seither nicht mehr.“ Die Familie lebt inzwischen von Aktiengewinnen.

Doch Freizeitvergnügen ist auch für die Tchi-tchi-Jugendlichen ein Fremdwort. Zwar hätte Amée genug Geld für die wenigen noch geöffneten Luxusdiskotheken, doch sie muß auf Wunsch ihrer Eltern jeden Abend um halb sieben zu Hause sein.

Amée findet das völlig normal: „Wir leben eben in einem muslimischen Land.“ Nur manchmal belügt sie ihren strengen Vater. „Aber nur, wenn ich mit meinem Freund ausgehe“, grinst sie und streicht sich dabei verlegen den Pony zurecht.

Telefongespräche von Kabine zu Kabine, Treffen in entlegenen Stadtteilen, Briefe nur postlagernd – ihren heimlichen Liebhaber hat sie auf der Hochzeit ihrer Schwester kennengelernt.

„Ein seltsames Fest war das“, erinnert sie sich. Der Bräutigam war gar nicht anwesend. Er lebt in London. Da er seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet hat, zog er es vor, nicht zu kommen. Er hatte Angst, für zwei Jahre in der Kaserne zu verschwinden. Die dreihundert Gäste feierten deshalb nur mit der Braut. Danach ging es im blumengeschmückten Autokonvoi zum Flughafen, wo die Braut eine Maschine nach London bestieg, um zu ihrem Mann zu fliegen.

„Meine Schwester hat es geschafft. Hätte ich die Möglichkeit, würde ich auch gehen. Ich lebe schon lange nur noch mit den Füßen hier. Mein Kopf lebt auf der anderen Seite des Mittelmeeres“, sagt Amée, die trotz guter Ausbildung an kein Weiterkommen in Algerien glaubt. Zu viele Arbeitslose mit akademischer Ausbildung bewerben sich um wenige Verwaltungsjobs.

Der 25jährige Nardim kann nicht verstehen, warum sich eine wie Amée beklagt. „Ich habe nicht einmal studiert. Als ich 1991 mit der Schule fertig war, suchte ich sofort Arbeit“, sagt der hochgewachsene junge Mann. Er fand sie, gerade mal achtzehn Jahre alt, bei der Gendarmerie. Überall im Lande demonstrierten die Anhänger der FIS gegen die korrupten Politiker des Einparteiensystems. Sie gewannen die ersten freien Parlamentswahlen. Das Militär trat auf den Plan. Das war Auftakt zu dem blutigen Konflikt, der seitdem Algerien erschüttert. Statt den Verkehr zu regeln, fand sich Nardim plötzlich in den Bergen Nordwestalgeriens auf Terroristenjagd wieder.

Jetzt ist sein Vertrag ausgelaufen. Der junge Mann ist mit der ersten Maschine von Oran nach Algier gekommen. „Einige letzte Ämtergänge machen“, dann gehört für ihn die Polizei der Vergangenheit an. Er hat sich extra einen Anzug ausgeliehen. Den Traum, es mit dem Polizistenjob zu etwas zu bringen, machten die Abwertung des Dinars und die Freigabe der Preise zunichte. Zuletzt waren die 12.000 Dinar Monatssold gerade noch 360 Mark wert – und die gingen an den freien Wochenenden drauf. Abschalten hat seinen Preis.

Zu Hause in Oran erkennen sie Nardim kaum wieder. Nur wenig ist von seiner einstigen Lebensfreude und seinem Sinn für Humor geblieben. „Ich habe zuviel gesehen“, sagt er. Die Opfer von Bombenanschlägen, verstümmelte Leichen, Menschen mit durchtrennter Kehle. „Die Bilder haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.“ Ob er bei der Verfolgung der radikalen Islamisten selbst zum Mörder wurde, darüber schweigt er sich aus.

„Immer wieder haben wir Kameraden zu Grabe getragen“, erinnert sich der Gendarm. Wie viele Polizisten und Soldaten im fast sieben Jahre anhaltenden Konflikt ihr Leben verloren haben, weiß niemand genau. „Um die Moral der Truppe nicht zu schwächen“, glaubt Nardim. Doch seine ist trotzdem dahin. Er wirkt apathisch. Sein Blick ist unruhig.

Für die Zukunft hat Nardim den gleichen Wunsch, wie Muhammad, Amée, Nisar und Jussef: „Ein Visum für Europa, um ein richtiges Leben zu beginnen.“

Es wird langsam Nacht. Während Amée brav zu Hause sitzt und die letzte Maschine nach Oran schon bereit steht, erklingen von den Moscheen herab die Verse des letzten der fünf täglichen Gebete. Muhammad läßt wie jeden Abend die letzten Münzen in der kleinen Gürteltasche verschwinden, klappt wie jeden Abend seinen Tisch zusammen und trägt ihn durch die Einfahrt zur Cité Lotifi.

Er gesellt sich zu seinen Kumpeln, die noch immer auf dem Hof rumhängen. „Wir wollten 1988 nur das, worauf wir ein Anrecht haben: eine bessere Zukunft“, sagt Jussef, der Postbeamte.

Reiner Wandler, 35, ist seit 1995 Iberien- und Maghrebkorrespondent der taz und lebt in Algier und Madrid