: Archäologe der Wegwerfmusik
Das Musikunternehmen „Bear Family Records“ sammelt und sortiert, was Plattenkonzernen keinen Profit mehr verspricht: Tondokumente und Aufnahmen aus dem Unterhaltungsgewerbe der letzten siebzig Jahre. Das Programm: von Doris Day, Caterina Valente, Gene Pitney und Petula Clark bis zum Hillbilly, Rock'n'Roll und Country ■ Von Jan Feddersen
Richard Weize sieht aus wie ein Ökobauer. Von seiner Sorte gibt es viele am Rande des Teufelsmoores, nicht weit von Worpswede, dem früheren Künstlerdorf in der Nähe Bremens. Der Mann trägt Latzhosen, Karohemden, Nickelbrille, die graue Mähne hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Kotten, in dem er wohnt, dient allem, nur nicht der Aufbewahrung von Obst und Gemüse. Der Hof birgt Weizes Firma, „Bear Family Records“. Sein Unternehmen ist innerhalb von knapp zwanzig Jahren zum weltweit führenden Anbieter von schmuckvollen CD-Boxen geworden.
In Deutschland interessiert sich so recht niemand für die vier Boxen mit dem auf 24 CDs gebrannten Ouvre der amerikanischen Sängerin und Schauspielerin Doris Day. In New York, Boston, Chicago und Los Angeles erst wird das wirtschaftliche Risiko der Leute von „Bear Family“ belohnt. Dort werden die Produkte aus Niedersachsen von Liebhabern, Sammlern und Trophäenjägern erworben – die dafür gerne tief in die Tasche greifen.
Weize und Hermann Knülle, sein Kompagnon, haben Mitte der siebziger Jahre einen Trend erwischt, ohne es zu ahnen: Erst die Schallplatte, später die CD zum Streicheln und Ins-Bücherregal-Stellen. Mittlerweile hat die Firma fast fünfzig Boxen veröffentlicht, versehen allesamt mit umfänglichem biographischem Material, Aufsätzen, Essays und Listen darüber, wo unter welchen Umständen die Tonaufnahmen stattfanden.
Von Caterina Valente, Peter Kraus, Rosemary Clooney, Eartha Kitt, Charlie Rich, aktuell eine von Petula Clark (“Downtown“) mit ihren nicht englisch gesungenen Titeln sowie die gesamten Singles des Sun-Labels, bei dem Elvis Presley seine Karriere begann. Für Musiksammler in aller Welt gilt Vollersode, wie der Ort heißt, wo Weizes Kompanie ansässig ist, als Mekka.
Hier wird ihnen der Stoff aufbereitet, auf den sie lange warteten. Man muß sich diese spezielle Sache, die Weize & Co. bedienen, etwa so vorstellen, als ob Siegfried Unseld plötzlich anfinge, die nie systematisch verlegten, verstreut in Kellerarchiven lagernden Texte eines einmal modischen Autors wie Peter Handke zu bündeln, um sie in Buchform herauszubringen. Am Ende hätte er Suhrkamp gegründet – und Freunde des österreichischen Autoren glücklich gemacht.
Denn in der Unterhaltungsmusik, und zwar der außerhalb des klassischen Sektors, ist es um die Repertoire- und Archivpflege eher lieblos bestellt. Originalbänder werden nur selten katalogisiert und gehegt; meist werden sie irgendwo gelagert. Weize berichtet, daß er für das Gros seiner für den US-Markt herausgegebenen CDs lange in muffigen und keineswegs wohltemperierten Lagerhallen stöbern mußte, ehe er fündig werden konnte. Noch heute geht in der Musikbranche das Gerücht, daß längst nicht alles, was Janis Joplin je im Studio eingespielt hat, auch veröffentlicht wurde.
Das Popmusikbusiness war immer zu eilig, als daß es jemanden interessiert hätte, für spätere Zeiten die Bestände und verworfenen Aufnahmen aufzubewahren. Was zählte, war das schnelle Geld – der Hit, sonst nichts. Weize meint, es schmerze ihn, wenn er bei seinen Recherchen in den USA oder in Deutschland merkt, daß die Masterbänder historischer Sessions von Mäusen angefressen wurden.
Dabei mag er die Musik oft selber nicht, die „Bear Family“ herausbringt. Die deutschen Schlager schon gar nicht. Am meisten noch Freddy Quinn, der in Weizes Augen in den fünfziger Jahren selbst Elvis Presley in den Schatten stellte. Aber die beiden CDs der Schlagersängerin Renate Kern – die sich aus Einsamkeit selbst umbrachte, weil es damals noch keine TV-Oldieshows gab –, die findet er künstlerisch gesehen eher zweitrangig. Was ihn interessiert, ist die Qualität der Wiederveröffentlichung selbst, das Endprodukt, auf daß ein Stück Alltagskultur sozusagen auf klassisch archäologische Weise gerettet werde.
Nun hat die Firma noch weit ehrgeizigere Projekte gestemmt. Voriges Jahr erhielt Weize in der Bonner Beethovenhalle den Preis der deutschen Schallplattenkritik verliehen – für die luxuriöse 8-CD-Box zum 100. Geburtstag Friedrich Hollaenders, des Hauskomponisten von Marlene Dietrich und Blandine Ebinger. Das war eine Auszeichnung, die in der Branche kommerziell gesehen zwar nicht soviel gilt wie der Goldene Otto von Bravo oder ein
MTV-Award. Trotzdem hat das öffentliche Lob dazu geführt, daß gutsortierte CD-Läden Erzeugnisse der „Bear Family“ vorrätig halten. Daß sich die Kosten der kiloschweren Boxen – trotz der Preise bis zu 500 Mark – oft nicht rechnen, daß also 1.500 Exemplare von einem CD-Paket verkauft werden müssen, um dem Unternehmen keine roten Zahlen zu bescheren, ist den „Bear Family“-Machern gleichgültig. Man lebt ohnehin nicht schlecht von den Einnahmen des Versandhandels von Oldie-CDs. Die hauseigenen Dinge werden so mitfinanziert. Es geht, Weize ist so hochmütig, daß man es ihm glaubt, immer um die Sache: Das Produkt muß weltklasse sein.
Was nicht ins Repertoire paßt, was keine Chance hat, in den Rang von Gesammelten Werken gehoben zu werden, gibt Weize auch unumwunden zu: Heavy Metal, Rock, Techno und der deutsche Schlager nach 1972, also der Schunkelära mit Stars wie Tony Marshall, Tina York oder Jürgen Marcus. Die hätten nur noch gefühlig getan und kein Gefühl mehr gehabt. Nein, 1973 hätte die Popmusik ihre Unschuld längst eingebüßt.
Und dann ist das auch nichts mehr für einen wie Richard Weize, der noch an die Musik glauben will, so wie in seiner Jugend, als er Bill-Haley-Singles zu sammeln an-
fing. Inzwischen verfügt der gelernte Schaufensterdekorateur über 30.000 Langspielplatten. Sammeln sei den Menschen innewohnend, sagt er, mindestens dem männlichen Teil. Daß die Käufer von CD-Boxen die Musik nur selten hören, weiß der Mann selbst. Selbst hartgesottene Verehrer von Doris Day (“Ché Sera“) werden nur in raren Momenten die zehn Versionen von „Sentimental Journey“ hören. Weize legt die wenigsten der eigenen Vinylscheiben noch auf. Aber er hat sie, das reicht. Sie geben ihm – wie anderen Sammlern auch – das Gefühl von schöner Vergangenheit.
Inzwischen haben auch die großen Musikkonzerne erkannt, welche Schätze in ihren Kellern womöglich noch schlummern. Ihre Editionspraxis ist dennoch eher schludrig. Polydor beispielsweise, das deutsche Schlagerlabel der Nachkriegszeit, hat Anfang der neunziger Jahre die größten deutschen Nachkriegshits veröffentlicht. Kenner erkannten nach einer Hörprobe: Nicht immer waren es die Originaleinspielungen – ein Umstand, der bei „Bear Records“ undenkbar wäre.
Demnächst soll eine repräsentative Marlene-Dietrich-Box veröffentlicht werden. Dieses Jahr war das wichtigste Projekt die Box unter dem Titel „Songs Of The Depression“ – Lieder der Wirtschaftskrise in den USA der dreißiger Jahre. Weize wird weitermachen. Ein manischer Mann. Es sei genau das, was ihm Spaß macht. Sechzehn Stunden die Woche, siebenmal die Woche.
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