: Sittliche Pranke
Weihnachten – das Fest der Liebe endet in vielen Familien bereits am ersten Abend mit einem handfesten Streit. „Viele Menschen haben die Sehnsucht, das Fest im erweiterten Familienkreis zu feiern“, sagt Bettina Seiler, Leiterin der evangelischen Telefonseelsorge Hamburg. Wenn das in Krach ausarte, sei das die Folge zu hoher Erwartungen. Es werde leicht vergessen, daß es durchaus Gründe gebe, warum sich die Familie nur selten gesehen hat. „Unsere Individualität ist uns wichtiger als das Zurückstecken für ein Leben in großen Gemeinschaften“, erklärt die Seelsorgerin. An Weihnachten erwarteten die Menschen nun, daß sie sich zusammensetzen und miteinander reden könnten. In Wahrheit aber hätten die Familien fast keine gemeinsamen Erlebnisse mehr.
Doch warum versammelt sich Heiligabend überhaupt die gesamte Familie, die das übrige Jahr nie vollzählig ist? „Die Sitte lenkt und nicht der eigene Wille“, sagt der Hamburger Soziologie-Professor Alexander Deichsel. Denn Weihnachten sei eine alte deutsche Sitte. Seit Generationen ergriffen Bräuche die Gemüter. Lange vor ihrem kalendarischen Termin kriechen sie in unsere Seelen, erklärt der Soziologe: „Die Sitte ist die ordnende Pranke der Kultur, und wer sich ihr entzieht, den sucht das schlechte Gewissen heim.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen