Im Wunderland

■ Der Apokalypse "Hitparade" erlegen oder einfach nur verrückt geworden? - Egal

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Atomphysiker kann heute ja jeder werden, Bundeskanzler sowieso, und als Astronauten schicken sie ja anscheinend jeden alten Sack zum Mond. Aber Weihnachtsmann bei der „ZDF- Hitparade“? Ins Fernsehen kommt schließlich jeder Trottel.

Ins normale Fernsehen vielleicht, aber die Zett-De-Eff-Hitparade ist einer der wenigen echten Fernsehklassiker. Mit der Hitparade aus dem Studio 1 der Berliner Film Union ließ und läßt das ZDF allmonatlich eine der letzten Überlebenden der Herrengedeck-Generation aus der Gruft steigen. Und Superquaßler Dieter Thomas Heck war es vergönnt, den deutschen Schlager zu retten – auch wenn der vielleicht gar nicht gerettet werden, sondern nach den für ihn recht passabel verlaufenen 50er und 60er Jahren in Frieden einschlafen wollte. Das ließ Herr Heck aber nicht zu. Nein, Herr Heck fand Schlager sogar wirklich gut. Auf Heck folgte Viktor Worms. Der erlaubte ausländischen Stars auf original ausländisch zu singen. Teufelswerk für viele Schlagerfans. Sein Nachfolger, der heutige Moderator Uwe Hübner, bereitete diesen internationalistischen Verirrungen ein jähes Ende. Der deutsche Schlager ist nämlich nur auf deutsch supererfolgreich – zumindest in der „ZDF-Hitparade“ mit ihrem Haarspray- und Lampenfieberschweißgeruch. Hier sollte sich auch ein Weihnachtsmann wie im Himmel fühlen. Aber auf dem Gelände des ZDF-Landesstudios in Berlin-Tempelhof geht es eher zu wie bei Alice im Wunderland. Allerlei freundliche Kobolde sind unterwegs, und die obligatorische „Seele von dat Janze hier“, Heinz, gibt's auch. Die Damen in der Maske, Meisterinnen der Schwerstrestaurationen, sind in Würde ergraut, und ein Großteil des Produktionsteams steht doch tatsächlich auf Männer. Aber Alice hat Angst. Da: Die böse Hexe des Ostens, Claudia Jung, singt „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Und dort: Der aufstrebende Lucca, eine unschöne Mischung aus deutschem Schlagerelend und internationalem Boy-Group-Gehampel lügt „Jeder weint alleine“. Und Michelle: Derzeit die große Nummer, piepst sie ihr zugekleistertes „Wer an Weihnachten glaubt“ (– „ist selber schuld“, oder was?)

Kohle machen wollen sie alle, dabei finden nur einige wenige Schlager wirklich toll. Selbst die Illusion, die Weather Girls und die Golden Gospel Singers – mit ihrem ohnehin fast unangenehm auffallenden Echtgesang – könnten irgendwie amerikanisches Flair verbreiten, wird vollständig zerstört. Beide Gruppen leben in Deutschland und sind ebenfalls Bewohner dieses Wunderlandes.

Auch Zwerge haben Hunger. Die abgetakelte, schwerst überteuerte Spelunke, in der sie sich von ihrem künstlerischen Offenbarungseid erholen dürfen, heißt hochtrabend „Casino“. Wirklich arme Würstchen besorgen sich hier von jedem Achtelpromi Autogramme, sogar Kurierfahrer werden angebettelt. – Und ich weiß nicht, ob es die Faszination an der Apokalypse war oder ob ich einfach nur verrückt geworden bin. Egal. Denn ich war der Weihnachtsmann in der „ZDF-Hitparade“. Frohes Fest. Mathias Stuhr

„Hitparade im ZDF. Uwe Hübner präsentiert Lieder zur Weihnachtszeit“. Samstag 19.25 Uhr, ZDF