Kommentar
: Rhetorische Turbulenzen

■ Rußland verurteilt den Angriff auf Bagdad unerwartet scharf

Die russische Kritik an dem Angriff auf Bagdad erinnert an die Rhetorik des Kalten Krieges: Die USA erscheinen als imperialistische Macht, die einen dritten Weltkrieg anzetteln will. Bleibt für Rußland die Aufgabe, den Weltfrieden zu verteidigen. Die starken Worte darf man nicht allzu ernst nehmen. Schließlich haben die Politiker, die sich jetzt zu Wort melden, die Angriffe der eigenen Truppen problemlos akzeptiert. Die Entschlossenheit, mit der Rußland die USA verurteilt, soll vor allem der eigenen Bevölkerung Souveränität vorführen.

Natürlich erscheinen in diesem Spiel die amerikanische und die britische Regierung arrogant. Aber bei einer Abstimmung im Sicherheitsrat hätten China und Rußland die Zustimmung verweigert. Die USA wären als hilflos erschienen, und Saddam hätte sich als Fuchs präsentiert, der seine übermächtigen Feinde am Nasenring herumführt.

Wer hätte eine amerikanische Drohung noch ernst genommen?

Die russische Regierung konnte – den gleichen Spielregeln folgend – nur mit jener Härte reagieren, die ihr noch zur Verfügung steht – der Rhetorik. Auch sie muß Stärke demonstrieren. Daß es genau darum geht, zeigen die Äußerungen der Kommunistischen Partei, die im Land mehr und mehr die Theatralik bestimmt. Die Ankündigung von Außenminister Iwanow, das Start-II-Abkommen werde nun nicht ratifiziert, klingt hilflos und nach Enttäuschung. Denn das Abkommen war seit seinem Abschluß 1993 ohnehin nicht ratifiziert worden, und es bestand auch keine Aussicht, daß es je ratifiziert würde.

Man sollte also die innenpolitische Wirkung der Angriffe auf Bagdad nicht überschätzen. Die russische Bevölkerung hat im Moment zuviel eigene Sorgen, um sich über die Bombardierung eines fernen Landes aufzuregen. Aber wie die US-Inszenierung der Ereignisse, die zum Angriff auf den Irak führte, ihre Folgerichtigkeit hatte, so kann auch die russische Regierung die Regeln ihrer Selbstdarstellung nicht frei bestimmen. Sie darf dem „patriotischen“ Milieu, das die Duma beherrscht, das Feld nicht überlassen. Das erscheint damit stärker als je zuvor. Die wirkliche Gefahr, die sich aus diesem Spiel ergeben kann, liegt in einer nicht allzu fernen Zukunft: wenn die russische Bevölkerung einen neuen Präsidenten zu wählen hat. Erhard Stölting

Der Autor ist Professor für Soziologie in Potsdam