Gelesenes und Erlesenes
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■ Dieter Rulff

Die große Pest von 1348/49 ist einem breiteren Publikum vor allem durch eine der eigenwilligsten Vorbeugungsmaßnahmen der Medizingeschichte überliefert: die Konklave der Adligen, von der Boccaccios „Decamerone“ berichtet. Das morbid-frivole Werk gibt Zeugnis von dem Zerfall der mittelalterlichen Gesellschaft, der der verheerendsten Naturkatastrophe geschuldet ist, die Europa jemals heimgesucht hat – dem Schwarzen Tod. Er entvölkerte die Städte und Dörfer um 70 bis 80 Prozent.

Der Wagenbach-Verlag hat nun drei Essays des 1991 verstorbenen amerikanischen Historikers David Herlihy herausgebracht, die den damaligen Geschehnissen eine erstaunlich positive Seite abgewinnen. Der frühere Präsident der American Historical Association schwingt sich zu der kühnen These auf, die große Pest habe dafür gesorgt, daß das Mittelalter die mittlere und nicht die letzte Entwicklungsphase des Westens wurde. Um es vorweg zu sagen, Herlihys Argumentation ist anfechtbar, und es zeugt von einem souveränen Umgang mit dem Autor, daß der Verlag dessen Essays ein kritisches Nachwort beifügte. Herlihy verknüpft auf beeindruckende Weise Phänomene der demographischen, technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu dem Bild eines Epochebruchs. Auch wenn der Autor aufgrund der Quellenlage zweifelt, ob das, was da, aus Asien kommend, Europa verheerte, allein die Pest war, so ist er sich doch sicher, daß ohne sie das mittelalterliche Europa noch recht gut jahrtausendelang mit bemerkenswerter Stabilität hätte bestehen können. Die Entvölkerung unterminierte das starre ständische Gefüge, zersetzte das scholastische Fundament, schuf Platz für Mobilität und technische Innovation. Die Pest war der Schwarze Tod, doch dieser Tod läutete die Wiedergeburt, die Renaissance, ein.

David Herlihy: „Der Schwarze Tod und die Verwandlung Europas“. Wagenbach Verlag, 119 Seiten, 34 DM

Dieter Rulff ist politischer Korrespondent der taz.Foto: W. Borrs