Landschaft mit Indigenas

Bolivien ist kein Land für Kurzatmige und auch keins für den Massentourismus. Bizarre Landschaften in den Kordilleren locken vor allem Trekkingtouristen. Bolivien verkauft seine Natur und Kultur als Ethnoökotourismus. Die Indigenas bauen diesen noch bescheidenen Erwerbszweig langsam in ihre Überlebensstrategie ein – ob sie nun Touristen beim Bergsteigen zu Diensten sind oder ihnen in den Städten bunte Tücher verkaufen. Eine Reportage  ■ von Bernd Pickert

Es ist nur ein Kilometer, der das Dorf San Pablo von dem Dorf San Pedro trennt. Ein Kilometer Wasser, der die Landstraße unterbricht, die von Boliviens Hauptstadt La Paz bis nach Copacabana am Südufer des Titicacasees führt und schließlich weiter über die peruanische Grenze bis nach Puno am nordwestlichen Ufer des Sees. Hier, an der „Enge von Tiquina“, stoßen die beiden Halbinseln von Huata und Copacabana beinahe zusammen, die den Titicacasee in den Kleinen, südlichen, und den sechsmal größeren Großen See teilen.

Autos und Busse, Lkws und Pick-ups müssen auf Pontons verladen werden, die, mit winzigen Außenbordmotoren betrieben, das Wasser überqueren. Die Busse auf den Holzpontons sehen kippelig aus, erinnern an kindliche Versuche, ein Matchboxauto auf einem aus Streichholzschachteln geleimten Floß in einer Pfütze schwimmen zu lassen, und daran, wie das damals ausging. Aus ein paar hundert Meter Entfernung sind die Pontons gar nicht mehr zu sehen, es scheint, als wackelten die Busse direkt übers Wasser.

Die Passagiere werden getrennt auf Barkassen übergesetzt. Ein ungeschriebenes Gesetz lautet, daß hellhäutige junge Menschen mit Trekkingschuhen, großen Rucksäcken und Kameras im hinteren Teil des Bootes im Freien Platz finden, wo sie aufrecht sitzen können, während die einheimischen Frauen mit ihren traditionellen Röcken, den polleras, und den bunten Tüchern, den ahuayos, in denen sie neben allerlei Gegenständen auch ihre Kinder tragen, sich in den vorderen Teil der Kajüte kauern, wo sie nichts sehen können und den Kopf einziehen müssen.

Einzig der Busfahrer begleitet sein Fahrzeug auf dem Holzponton, zieht während der Überfahrt ein paar Eimer Wasser aus dem See, schüttet sie von außen an die Fenster und schrubbt daran herum, um den Staub zu lösen, der sich während der Fahrt auf den Landstraßen angesammelt hat. Dann sieht er sich auf dem See um, beschließt, sich von den vielen Booten und Menschen nicht beeindrucken zu lassen, und pinkelt ins Wasser.

Der Titicacasee kann das verkraften. Er ist an dieser Stelle 65 Meter tief, an der tiefsten sogar 274 Meter, hat eine Gesamtoberfläche von 8.300 Quadratkilometern, von denen die Hälfte zu Peru gehören, liegt auf 3.812 Meter Höhe, ist damit der höchste schiffbare See der Welt – und das einzige Gewässer, in dem die bolivianische Kriegsmarine herumfahren kann. An deren Posten im Fährort San Pablo verkündet ein großes Schild, daß es die vaterländische Pflicht sei, das Meer wiederzuerobern – gemeint ist die Küstenprovinz Litoral mit den Hafenstädten Antofagasta und Arica, die seit dem sogenannten Salpeterkrieg 1884 zu Chile gehört.

Seither hat Bolivien keinen eigenen Zugang zum Meer. Erst seit 1992 regelt ein Vertrag mit Peru, daß Bolivien in der Hafenstadt Ilo über eine Freihandelszone verfügt. Überhaupt hat Boliviens wenig glorreiche Armee so ziemlich jeden Krieg verloren und jedesmal ein Stück des Landes hergeben müssen: im Nordosten an Brasilien, im Westen an Chile und Peru, im Südosten an Paraguay. Einzig der südliche Nachbar Argentinien hat den Bolivianern nie ein Stück Land gekappt.

Eine knappe Stunde Fahrt auf der Landstraße später ist Copacabana erreicht, eine kleine Stadt am Südufer des Lago Mayor, des Großen Sees. Die Stadt lebt vom Tourismus. Kleine Kaschemmen, wo Rucksacktouristen für ein paar Dollar Unterkunft finden, viele Fischrestaurants, ein paar relativ neue größere Hotels prägen das Stadtbild rund um den zentralen Platz vor der Kathedrale. Dutzende von Händlern versuchen dort Kunst und Nippes, bunte Tücher und Coca-Cola, Wollmützen und Baseballkappen unter die Leute zu bringen.

Bolivien ist kein Land für den Massentourismus. Die Höhe auf dem Altiplano produziert Kopfschmerzen, wenn nicht Höhenkrankheit. Das Tiefland hat zwar warmes, tropisches Klima, aber kein Meer, in das man hineinspringen könnte. So bleibt den Touristen nur, andere Qualitäten des Landes hervorzuheben – „Ethnoökotourismus“, kurz gesagt also: Landschaft mit Indigenas. Die werden dabei freilich lediglich zum Farbtupfer im Gesamtbild. So sehr sie es hassen, fotografiert zu werden, so häufig werden sie abgelichtet. Und langsam bauen sie den Tourismus in ihre Überlebensstrategien ein, ob sie nun als Lamatreiber in den Kordilleren Touristengruppen beim Trekking und Bergsteigen zu Diensten sind oder ihnen in den Städten bunte Tücher verkaufen.

Am Strand und kleinen Hafen von Copacabana verkauft ein Alter Modellnachbildungen der berühmten Schilfboote, von denen die meisten Reiseführer fälschlicherweise behaupten, sie seien noch in Gebrauch. Abends geht über dem See malerisch die Sonne unter – und sofort sinkt das Thermometer von T-Shirt-Wärme auf Fleecepullovertemperaturen.

Vom Hafen aus bringen Motorboote die Touristen mit dem Boot zur Sonneninsel. Die Fahrt über den tiefblauen See ist tatsächlich ein Erlebnis – noch schöner aber ist es, von Copacabana aus auf Höhe der umgebenden Hügel hochzusteigen und auf dem Grat gen Norden zu wandern, zur nördlichsten Spitze der Halbinsel, und sich dort irgendwo mit dem Boot zum Übersetzen auf die Sonneninsel abholen zu lassen.

Dem Wanderer, der oben anlangt, raubt nicht nur die in 4.200 Meter Höhe doch arg dünne Luft den Atem. Wie in das Blau des Sees hineingeschnitten fallen im Süden die Hänge Copacabanas und im Norden die der Sonneninsel steil ins Wasser. Westlich schweift der Blick weit über den See bis ans peruanische Ufer. Auf der östlichen Seite taucht die Mondinsel auf, weit dahinter erheben sich am Horizont majestätisch die Königskordilleren der Anden mit ihren schneebedeckten Sechstausendern Illampu, Ancohuma, bis hinunter zum Huayna Potosi. Dieser 360-Grad-Blick ist für ein sauerstoffarmes Hirn zuviel, und selbst Fotografien geraten wie gemalt, befremdlich schön. Die klare, kalte und dünne Luft verhärtet die Farben.

Als wenn noch etwas gefehlt hätte, taucht am Wegesrand ein Lama auf, mit diesen unerschrockenen Augen, den hochgestellten Ohren und dem Stummelschwanz. Das pittoreske Gesamtpanorama komplettiert die Aymarafrau mit ihrem Bowlerhut, die fast bewegungslos am Hang sitzt, mit einer Handspindel Wolle verarbeitet und auf Schafe aufpaßt.

Sie rührt sich erst, als ein Tourist mit einem Riesenfotoobjektiv vor der Nase daherkommt. Ein tüchtiger Steinhagel treibt den aufdringlichen Menschen in die Flucht. Vom aktuellen bolivianischen Konzept des „Ökoethnotourismus“ scheint die Frau nichts zu halten.

Wie früher die Pilger auf der heiligen Sonneninsel kommen heute dort die Touristen an. Direkt neben der Ruine des Pilkokainatempels, der natürlich auf die aufgehende Sonne ausgerichtet ist, können Touristengruppen in einer kleinen Hütte übernachten. Strom gibt es nicht, Heizung auch nicht, und nachts sinken die Temperaturen weit unter zehn Grad – eine kräftige Suppe am Abend wärmt.

Bevor die Spanier die meisten Kultstätten der Inka- und der früheren Tiwanakukultur zerstörten, galt die Sonneninsel als heilige Insel, ja als Ursprung des Lebens. Alte Pilgerstraßen, mit Natursteinen gepflastert, verbinden noch heute die verschiedenen Dörfer miteinander.

Der Besuch Boliviens ist meist nur Anhängsel einer Perureise. Bolivianische Reiseveranstalter holen sich die Gruppen mitunter von der peruanischen Seite herüber, drängen sie regelrecht auf den sogenannten Inkatrail, der sie über die Grenze führt, damit sie nicht gleich am Titicacasee wieder abdrehen. Als der Perutourismus Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre durch die Guerillatätigkeit des „Leuchtenden Pfades“ praktisch zum Erliegen kam, litt der Bolivientourismus gleich mit. Die Hoteliers in La Paz spüren es, wenn Militäraktionen gegen den Kokaanbau in der seit langem militarisierten Region Chapare wieder durch die internationale Presse gehen oder Kokabauern effektvoll in La Paz demonstrieren – Reisegruppen, insbesondere aus den ängstlichen USA, stornieren ihre Buchungen. Daß Touristen in diese Regionen ohnehin nicht fahren, nutzt nichts.

Ein paar hundert Kilometer Busfahrt über den Altiplano; die Hochebene ist in der Trockenzeit gelbbraun. Hier liegt La Paz, die größte Stadt und der Regierungssitz Boliviens. Die Stadt wächst in die Täler hinein, die Hänge hinauf. Unten bei 3.200 Metern, wo es wärmer und die Luft etwas dicker ist, bauen die Reichen, oben, in 4.100 Meter Höhe, wo es kalt ist, die Wege steil und die Straßen ungepflastert sind, bauen die Armen. Anders als in anderen lateinamerikanischen Städten, wo zuerst Slumgürtel in den Vororten entstehen, der Zuzug von Armen also für die Flächenausdehnung sorgt, sind es in La Paz die Reichen, die zuerst bauen. Zweistöckige Villen, stilistisch eine Mischung aus Schwarzwald und englischem Landhaus, oft geschmacklos, aber teuer, bedecken die Täler. Die Armen füllen dann später die Hänge auf.

Im Stadtzentrum repräsentiert eine Hochhauszeile mit teurer Einkaufsmeile, Bankhäusern und Hotels die Moderne des spanischsprachigen Bolivien. An den Hängen zeigen Häuser aus traditionellen Adobes, Lehmziegeln, daß hier das indianische Bolivien seinen Platz in der Hauptstadt sucht, höher gelegen und minderbemittelt. Tagsüber treffen sich beide Welten im Zentrum, da, wo Geschäfte gemacht werden, wo Männer im Anzug ins Büro eilen, vorbei an traditionell gekleideten Indigenafrauen, die selbstgemachte Säfte anbieten, an Schuhputzern, die sich in La Paz aus irgendeinem Grund zapatistengleich mit Skimasken das Gesicht verhüllen.

Die Stadt hat die Millionengrenze lange hinter sich gelassen. Die Touristen, im übrigen Land ein oft willkommener, manchmal gehaßter Fremdkörper, fallen hier nicht weiter auf.

Bernd Pickert, 33, ist Auslandsredakteur der taz