Giovanni hat schon ein Zimmer in Berlin

Der begehrteste Junggeselle der „Süddeutschen Zeitung“, „Seite 3“-Chef Giovanni di Lorenzo, schlägt sein Domizil in der Hauptstadt auf. Zum 1. Januar übernimmt das Vorbild ganzer Journalistenschul-Generationen die Chefredaktion des „Tagesspiegels“. Ein Portrait  ■ von Stefan Kuzmany

Eigentlich geht hier niemand weg. An der Wand gegenüber dem Schreibtisch hängen Kinderfotos der engsten Mitarbeiter, auf dem Gang vor dem Büro grüßen die Kollegen und Kolleginnen freundlich, wechseln Wünsche für ein schönes Wochenende oder kommen kurz herein, auf einen kleinen Flachs. Es herrscht eine Atmosphäre freundschaftlicher Kollegialität hier in München bei der Süddeutschen Zeitung – eigentlich kein Grund, den Arbeitsplatz zu wechseln.

An schlechter Bezahlung oder langweiligen Aufgaben wird es auch nicht gelegen haben, daß Giovanni di Lorenzo den Traumjob eines jeden Journalistenschülers aufgegegeben hat. Schließlich ist der Journalist seit 1994 bei der renommierten SZ verantwortlich für die „Seite 3“ – neben dem „Streiflicht“ der wichtigste Grund, das Blatt zu lesen.

„Bei manchen Aufgaben muß man beten, daß sie einem nicht angeboten werden, sonst muß man sie annehmen“, habe ihm ein Freund einmal gesagt. Dreimal schon hat di Lorenzo Angebote für Chefredakteursposten ausgeschlagen, diesmal – „man muß schließlich auch mal springen“ – hat er angenommen, will „beruflich und menschlich wachsen“. Und wird ab 1. Januar kommenden Jahres alleinverantwortlicher Chefredakteur des Berliner Tagesspiegels sein.

Es ist schon etwas verwirrend, dem 39jährigen gegenüberzusitzen: Mühelos und sehr charmant versteht es di Lorenzo, den unbekannten Besucher in ein kalkuliertes, also professionelles Vertrauen zu ziehen, hängt zunächst seine Krawatte an den Kleiderständer, bietet ein Getränk an, senkt die Stimme, wirft einen wachen Blick über den Tisch, um dann freundlich plaudernd von seiner Karriere zu erzählen.

Im Banne dieser Freundlichkeit kommt einem die junge Verlagsangestellte in den Sinn, die geseufzt hatte, mit „dem Giovanni“ würde der begehrteste Junggeselle des Süddeutschen Verlages die Stadt verlassen. Den habe man in der Kantine nur lange genug anlächeln müssen, schon hätte er sooo charmant zurückgegrüßt. Oder die Dame unten auf dem Gang vor der Bildredaktion, die, nach dem Weg zum Büro der „Seite 3“ gefragt, sofort ins Schwärmen über „den Giovanni“ gerät. Ein angenehmer Kollege, wie es scheint. Michael Stiller, Redakteur im Ressort Innenpolitik, ist kurz vor dem Abschied auf ihn zugekommen, mit einem kleinen Geschenk aus dem heimischen Garten in der Hand. „Ich habe dir einen Apfel gepflückt“, habe Stiller gesagt. „Das geht einem schon nahe.“

Alle Freundschaftsbekundungen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein überraschender Weggang von der Süddeutschen Zeitung auch für Irritationen gesorgt hat. Chefredakteur Werner Kilz, heißt es, habe mit Eiseskälte reagiert. Darüber will di Lorenzo nicht reden – nur soviel: „Ich habe nicht gepokert. Ich habe vor Vertragsunterzeichnung die Karten offengelegt und rein persönliche Gründe angegeben.“ Mit Fairneß hat es wohl auch zu tun, daß sich der designierte Chef nicht über seine Pläne für den neuen Arbeitsplatz auslassen möchte: „Dazu will ich mich noch nicht äußern, bevor ich nicht mit meinen neuen Kollegen in Berlin gesprochen habe.“ Andere hätten sich vor Amtsantritt mit „großen Sprüchen aus dem Fenster gelehnt“ und seien „mit offener Brieftasche herumgelaufen“ – di Lorenzo, das merkt man deutlich, hat dafür kein Verständnis.

Aufschlußreicher ist da schon, was er über das Vergangene sagt. Bei der „Seite 3“ habe er versucht, „die Fenster zu öffnen“, und einen „Kader von jungen Talenten aufgebaut“. „Weg von der reinen Pflichtberichterstattung“ habe er sein Ressort geführt, dabei sicherlich auch den einen oder anderen Autor zurückgedrängt. Aus München wird er sich eine eigene kleine Mannschaft mitnehmen: „Wer kommen will, muß jetzt springen. Natürlich bin ich mit einigen Leuten im Gespräch“, sagt di Lorenzo.

Unterdessen klingelt immer wieder das Telefon. Drei Namen sind schon sicher: der Kisch-Preisträger Stephan Lebert wird sich mit di Lorenzo von der SZ verabschieden, ebenso der Investigativreporter Jürgen Schreiber und Christoph Amend – der hätte eigentlich neuer Chefredakteur der SZ-eigenen Jugendbeilage jetzt werden sollen.

Direkt abgeworben habe er niemanden aus dem Hause, schon aus Loyalität zum alten Arbeitgeber. Schließlich ist Giovanni di Lorenzo bei der Süddeutschen Zeitung groß geworden. Sein großes Entrée hatte er allerdings nicht in München, sondern in Hamburg. Als 23jähriger verhandelte er mit Josef Joffe, damals Redakteur bei der Zeit, heute Außenpolitikchef bei der SZ, über die Veröffentlichung eines Textes über einen Neonazi- Aussteiger, den di Lorenzo noch aus Schulzeiten kannte. Joffe sei zunächst mißtrauisch gewesen: „Woher weiß ich, daß Sie mich nicht bescheißen?“ habe er gefragt, und di Lorenzo habe gekontert wie in einem amerikanischen Spielfilm: „Geben Sie mir fünf Minuten.“

Die haben offenbar ausgereicht. 1987 schrieb di Lorenzo seine Magisterarbeit in Kommunikationswissenschaften an der Universität München über den italienischen Medienboß Silvio Berlusconi. Beinahe wäre er auf der dunklen Seite der Macht gelandet: Nach einem Interview hielt er noch jahrelang Kontakt zu Berlusconi und seinen Mitarbeitern, was ihm das Angebot einbrachte, Berlusconis persönlicher Assistent zu werden. Das wollte er nicht – statt dessen ließ er sich vom damaligen SZ-Chefredakteur Dieter Schröder als „Seite 3“-Reporter einstellen.

Viereinhalb Jahre stand er der „Seite 3“ schließlich vor. „Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt. Eigentlich geht man hier nicht weg. Die, die weggegangen sind, sind alle unglücklich geworden – aber die waren ja auch in Hamburg und nicht in Berlin“, sagt di Lorenzo – und spielt dabei wohl auf den Ausflug seines Kollegen Herbert Riehl-Heyse in den Norden an, der nach einem kurzen Intermezzo als Stern-Chefredakteur wieder in die Biergartenstadt zurückgekehrt war.

Die Stadt wird auch di Lorenzo fehlen, vor allem, sagt er, die Nähe zu den Alpen und zu Italien. „Noch nie habe ich so lange in einer Stadt gelebt wie in München.“ Siebzehn Jahre sind es geworden, davon allein elfeinhalb Jahre bei der Süddeutschen – und „plötzlich ist alles neu“.

Die Tageszeitung ist di Lorenzos journalistische Heimat, daneben war und ist er aber auch im Fernsehen erfolgreich. 1986 erhielt er gemeinsam mit Amelie Fried den Adolf-Grimme-Preis in Silber für die Moderation von „Live aus dem Schlachthof“, dem legendären Jugendmagazin des Bayerischen Rundfunks. Ab 1989 moderierte er für Radio Bremen die Talkshow „III nach neun“, dreizehnmal im Jahr will er das auch in Zukunft weiter machen – „das geht“, auch wenn es so anstrengend sei „wie drei Tage Redaktionsarbeit“.

Hinter Giovanni di Lorenzo hängt ein großes rotes Plakat an der Wand. Es erinnert an die Initiative „München – eine Stadt sagt nein“, deren Mitinitiator Giovanni di Lorenzo war. Vier Münchener Bürger hatten es geschafft, binnen sechs Wochen Hunderte von Helfern in der bayerischen Hauptstadt zu mobilisieren: Am Nikolaustag 1992 füllten mehr als 400.000 Menschen mit Kerzen in den Händen die Plätze und Straßen Münchens, um gegen Ausländerfeindlichkeit zu demonstrieren. Dieser ersten Aktion folgten überall in ganz Deutschland Lichterketten, die bundesweit etwa drei Millionen Menschen auf die Straßen brachten.

Sich di Lorenzo deshalb als altlinken Sozialromantiker vorzustellen wäre allerdings ein Trugschluß. „Ich bin in Fragen der inneren Sicherheit und der Ausländerpolitik konservativer als Teile der Redaktion der Süddeutschen Zeitung.“ Es ist kein Geheimnis, daß di Lorenzo deswegen schon oft mit dem Innenpolitikchef Heribert Prantl zusammengestoßen ist – rein fachlich natürlich, denn „es verbindet uns eine Freundschaft, die auch weiter halten wird“.

Was seine politische Einordnung betrifft, will er auf keinen Fall falsch verstanden werden. Giovanni di Lorenzo steht auf, geht zum Kleiderständer, entledigt sich des Sakkos und präzisiert: „Wenn man nicht nur eine Meinung hat, sondern auch die Tatsachen sieht, ergibt sich ein differenzierteres Bild.“ Seine Erfahrung als Reporter habe ihn gelehrt, die Details zu beachten. Nicht die Geschichten einfach so zu glauben, wie sie sich eben gut anhören, sondern wie sie wirklich passiert sind: „Wenn eine Meinung nur auf einem Vorurteil beruht, dann kann ich auf sie verzichten.“

Zum Beispiel der „Fall Mehmet“: ein Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung war als einziger Journalist bei „Mehmets“ Eltern auf dem Sofa gesessen und hatte daraufhin auf der „Seite 3“ eine anrührende Geschichte über den damals noch 13jährigen Schläger gebracht. „Mehmet“ gelobte in der SZ Reue und Besserung – wenige Wochen später raubte er wieder einen Passanten aus. „Da sind wir beschissen worden“, sagt di Lorenzo heute. Er sei kein Fan der Abschiebung „Mehmets“, doch der größere Skandal im „Fall Mehmet“ sei nicht die Ausweisung des Jungen, sondern „wie er in sein Unglück gerannt ist, ohne daß die Behörden etwas unternommen haben“.

Über solche Ansichten freut sich auch schon mal die CSU: Alois Glück, Fraktionschef der christsozialen Partei im Bayerischen Landtag, zitierte in einer Rede aus einem Artikel di Lorenzos über Integrationspolitik. Was den Autor noch nicht zum Parteigänger macht: „Kein Journalist sollte Politik machen.“

Auf die doppelte Staatsbürgerschaft freut sich der italienische Staatsangehörige, ein „Deutsch- Italiener“, wie er sich selbst nennt, geboren in Stockholm als Sohn einer Deutschen und eines Italieners. War ihm München eine „widerspruchsfreie Stadt“, steckt Berlin für Giovanni di Lorenzo voller Widersprüche – sozial, kulturell, politisch – das mache ihren Großstadtcharakter aus. Diese Widersprüche, dieses „Laboratorium“, möchte er seinen Lesern vermitteln.

Im Herbst 1989 hat di Lorenzo Berlin in der spannenden Zeit der Maueröffnung als Reporter besucht. Wo er sich in der Hauptstadt in Zukunft eine Wohnung nehmen wird, weiß er noch nicht: „Zunächst einmal ziehe ich ins Hotel, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wo in Berlin ich wohnen möchte. Und um keine Zeit zu verlieren: Im Hotel zu wohnen ist, wie im Büro zu wohnen.“ Der Osten der Stadt würde ihn allerdings schon reizen. Eine Zusage hat di Lorenzo bereits: Seine Berliner Großtante Gretchen, bald 91 Jahre alt, hat dem Giovanni ein Zimmer bei sich daheim angeboten.