„Fürchtet euch nicht!“

Heiligabend in Berlin: Ein Kaufhaus tanzt einen langsamen Walzer, ein Mann verläßt drei Frauen, Satan erscheint der Sophiengemeinde. Die einen trinken, während die andern langsam das Haschisch auspacken  ■ Von Kolja Mensing

12 Uhr 14, Heiligabend. An der Kasse des Supermarktes gegenüber den Hackeschen Höfen stehen schöne junge Männer und Frauen, die in den nächsten Tagen sehr viel essen wollen. Sie haben ihre Einkaufswagen mit Lachs und Sekt und Aufbackbrötchen vollgepackt, und die Kassiererin wünscht allen ein frohes Fest. Als der schlecht rasierte Mann mit der Kunstlederjacke an der Reihe ist und in seinem Einkaufswagen nur zwei Dosen Carlsberg und eine Packung Tiefkühl-Baguettes liegen, sagt sie allerdings gar nichts. Das ist rücksichtsvoll.

13 Uhr 05. Die U2 ist fast leer. In einem Abteil sitzt eine notdürftig abgeschminkte Weihnachtsfrau, ein paar Penner trinken Bier, aus den Lautsprechern kommt leise Musik.

13 Uhr 30. Im KaDeWe herrscht überraschenderweise eine angenehme und sehr entspannte Stimmung. Männer halten die Hände ihrer Frauen und riechen an frisch aufgetupften Parfüms, Paare schweben auf Rolltreppen gemächlich in den Himmel und küssen sich dabei so sinnlich wie das ganze Jahr noch nicht, und ein Prolet mit Wu-Tang-Jacke und Walkman betrachtet zärtlich eine Zinnvase, die auf einem Verkaufstisch im Erdgeschoß steht. Eine halbe Stunde vor Ladenschluß tanzt das große Kaufhaus einen langsamen Walzer, und es würde einen gar nicht wundern, wenn plötzlich in der fast menschenleeren Teppichabteilung Schnee fiele. Schließlich sagt eine Lautsprecherstimme: „Sehr geehrte Kunden! Es ist 14 Uhr, und wir schließen. Wir wünschen Ihnen und unseren Mitarbeitern ein frohes Weihnachtsfest.“ Erst jetzt ist wirklich Heiligabend. Schnell kauft jeder noch irgendeine Kleinigkeit, dann schließen die Kassen. Im ganzen Kaufhaus wird Geld gezählt, und das zarte Klingeln des Kleingeldes erinnert an das Klirren von Gläsern, die am Ende einer langen Ballnacht von müden Kellnern eingesammelt werden.

15 Uhr. Am Winterfeldtplatz kommt es auf offener Straße zu einer kleinen Familientragödie. Ein Mann und eine Frau tuscheln böse, die Schwiegermutter tut so, als ob es sie gar nichts angeht, und die kleine Tochter wundert sich. Der Streit endet damit, daß der Mann seine drei Frauen einfach stehen läßt. „Dann gehen wir jetzt eben auch“, sagt die Frau. Es klingt gar nicht besonders traurig.

15 Uhr 10. Das „Café Lux“ in der Goltzstraße hat ein Pappschild in der Tür, auf dem „heute bis 16 Uhr geöffnet“ steht. Daneben sind eine stummelige Kerze und ein etwas verrutschter Stern gemalt, damit man weiß, daß mit „heute“ Heiligabend gemeint ist. Im „Lux“ sitzen die Männer, die sich gar nicht erst mit irgendwelchen Frauen streiten müssen, um Weihnachten alleine zu verbringen. Sie unterhalten sich darüber, wie schön Billardspielen sein kann und hören 80er-Jahre- Musik: Whitesnake und Scorpions. Für einen Moment ist es wie bei Charles Dickens, man ist umgeben von den Geistern der vergangenen Weihnacht. Gleichzeitig kann man sich die Weihnachten vorstellen, die noch kommen werden und die im „Lux“ immer gleich aussehen werden.

15 Uhr 35. Im „Lux“ werden die ersten Krümel Haschisch ausgepackt. Ab und zu gehen Familien die Goltzstraße entlang, mit kleinen Kartons und Kuchenschachteln. Sie haben ein Ziel und schauen mitleidig durch die großen Scheiben ins Café.

16 Uhr. Vor dem Rathaus Schöneberg haben sich etwa 200 Menschen versammelt, um sich Weihnachtslieder anzuhören. Das ist „eine gute alte Tradition“, steht auf der Einladung, und das „Bläserensemble der Musikschule unter der Leitung von Egbert Nass“ spielt darum besonders getragen. Nach jedem Lied klatschen die Menschen, die sich untereinander alle kennen. Die Tauben, die auf den Mauervorsprüngen des Rathauses sitzen, erschrecken sich dann jedesmal und fliegen aufgeregt einmal im Kreis. Zwischendurch hält der stellvertretende Bürgermeister von Schöneberg eine Rede: „Wir stehen am Ende eines schwierigen Jahres. Es war nicht leicht, wie auch die Jahre davor“ sagt er und fügt hinzu: „Ich kann Ihnen versprechen, daß auch das nächste Jahre nicht ganz einfach wird.“ Die Menschen klatschen, und die Tauben fliegen noch eine Runde.

17 Uhr. Schneeregen. Auf dem Potsdamer Platz ist es sehr still. Die Arkaden sind längst geschlossen, hier und da leuchtet das weihnachtliches Grün der Debis. Vor dem McDonald's gegenüber der Spielbank posiert ein Vater mit seinem Sohn auf einer Bank, neben ihnen sitzt ein lebensgroßer Ronald McDonald. Sonst ist niemand mehr da. Nur die Mitarbeiter eines Security-Dienstes in ihren blauen Uniformen, die darauf aufpassen, daß auch an diesem Abend niemand ein Hochhaus stiehlt.

18 Uhr 25. Während der Christvesper in der Sophienkirche in Mitte weist der Pastor auf all die Menschen hin, die es „im letzten Jahr nicht leicht hatten“ und zu denen man darum besonders nett sein müsse. Gerade jetzt, Weihnachten. „Alles Lüge“, sagt daraufhin ein junger Mann mit Kapuzenjacke und zerrissenen Jeans, der sich breitbeinig im hinteren Teil der Kirche aufgebaut hat. „Du erzählst Scheiße“, erklärt er dem Pastor, der den kleinen Auftritt Satans einfach ignoriert. Die Gemeindemitglieder, zu denen auch einige der schönen jungen Männer und Frauen gehören, die man aus dem Supermarkt gegenüber den Hackeschen Höfen kennt, singen von nun an um so lauter. Als der Gottesdienst zu Ende ist, gibt der Pastor jedem, der aus der Kirche geht, die Hand: „Fürchtet Euch nicht.“ Der junge Mann ist verschwunden.

20 Uhr. Hell erleuchtete Fenster.

22 Uhr. In den wenigen Kneipen entlang der Oranienburger Straße, die heute abend geöffnet sind, bemüht man sich um Normalität. Im „Café Zapata“ zum Beispiel ist man sich einig, daß heute ein Tag wie jeder andere ist. Jedesmal wenn die Tür aufgeht, passen die kleinen Grüppchen an der Theke gut auf, daß ja kein Hauch Weihnachten hereinweht. Ansonsten schauen alle sehr gelangweilt auf ihre Becks-Flaschen. Dann betritt ein Mädchen das „Zapata“, und plötzlich wird es doch etwas weihnachtlich. Sie umarmt den Jungen, der bisher an einem Tisch in der Ecke in einem Taschenbuch gelesen hat. Sie küssen sich sehr lange und ein bißchen ungeschickt, dann holen sie jeder ein kleines, mit buntem Papier und viel Tesafilm eingepacktes Geschenk hervor. Die Menschen an der Theke übersehen den feierlichen Moment großzügig und schauen weiter gelangweilt auf ihre Becks-Flaschen.

23 Uhr 05. Während man sich anderswo darum bemüht, den Heiligabend erst gar nicht stattfinden zu lassen, wehrt man sich an der Volksbühne mit den üblichen Mitteln. Man hat für diesen Abend ein „Fest mit Freunden“ angekündigt, über das Portal ein schwarzes Banner gehängt, auf dem „Stille Nacht“ steht, und zwei glitzernde Engel auf die Bühne des großen Hauses gesetzt. Es soll also lustig zugehen. Zunächst singt man ein Weihnachtslied – um sich locker zu machen und zu zeigen, daß man keine Angst vor dem 24. Dezember hat. Dann kommt der Sänger von „Surrogat“ auf die Bühne und brüllt ins Mikrofon: „Es ist Weihnachten, fuck!“ Später spielen noch andere Bands, Jürgen Kuttner moderiert und es wird immer lustiger. An der Volksbühne ist Heiligabend Kindergeburtstag und Karneval.

1 Uhr 10. Da es Menschen ohne Freund oder Freundin am Heiligabend oft schlecht geht, gibt es in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg eine Single-Party. Im Kesselhaus steht ein großer Weihnachtsbaum, es läuft Musik von Rammstein und Depeche Mode, und alle haben sich eine Nummer auf ihre kurzen T-Shirts und Bomberjacken geklebt. Wer sich einen tollen Mann oder eine tolle Frau ausgesucht hat, kann ihm oder ihr einen Brief schreiben. So einfach ist das. „Ein Brief für Nummer 235, 176 und 98“ steht dann zum Beispiel auf der großen Videoleinwand, und daraufhin muß man zum Computerterminal gehen und sich seinen Brief abholen. Wenn die eigene Nummer nicht dabei ist, schaut man schnell in eine andere Richtung, zündet sich eine Zigarette an oder trinkt einfach noch ein Bier. Wer niemanden abbekommt, zieht später betrunken durch die Straßen und grölt Weihnachtslieder. So einfach ist das.

2 Uhr 51. Zuletzt zurück zur Oranienburger Straße. Die dunkelhaarige Bedienung in der „Mitte-Bar“, die an anderen Abenden sehr unnahbar ist, wünscht jedem Gast Fröhliche Weihnachten. Inzwischen ist der Heiligabend also auch hier angekommen, und man kann beruhigt nach Hause gehen. Noch zweimal schlafen, dann ist Weihnachten vorbei.