Wie Ost und West ihre Helden schufen

■ Vor dem Berliner Landgericht wird ein einmaliger Fall verhandelt: Der Tod eines DDR-Grenzpolizisten. Ein damaliger Fluchthelfer soll ihn erschossen haben. Sowohl der mutmaßliche Schütze als auch das Op

Berlin (taz) – Auf der Anklagebank sitzt ein kleingewachsener Mann. Auf die Fragen der Richterin schweigt er, mitunter nickt oder schüttelt er mit dem Kopf. In Absprache mit Verteidiger Volkmar Mehle verfolgt er die Taktik der Aussageverweigerung. Rudolf Müller ist des Mordes angeklagt, den er vor 36 Jahren begangen haben soll. Vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Berlin wird sein Fall seit dem 18. Dezember unter dem Aktenzeichen 540-3/97 verhandelt.

In der Anklageschrift der Berliner Staatsanwaltschaft I steht: „Rudolf M. wird angeklagt, in Berlin-Mitte am 18. Juni 1962 einen Menschen heimtückisch getötet zu haben.“ Beim Opfer handelt es sich um den damals 20jährigen Gefreiten der Grenztruppen der DDR Reinhold Huhn. Nach über 60 Strafverfahren gegen DDR- Grenzsoldaten wegen Totschlags ist das der erste Prozeß gegen einen Fluchthelfer, der den Versuch unternahm, Angehörige von Ostberlin in den Westteil der Stadt zu schleusen. Was passierte damals?

Am Tag des Mauerbaus in Berlin, dem 13. August 1961, verläßt Müller den Ostteil der Stadt. Der ehemalige Wachtmeister aus Berlin-Weißensee läßt bei der überstürzten Aktion seine Familie, Frau und zwei Söhne, im Ostteil zurück. Die Verbindung zu den Angehörigen ist durch die Mauer getrennt.

Schließlich trifft er den Maurer Kurt Erdelbrock, dessen Lage ähnlich ist. Auch er möchte seine Familie nach Westberlin schleusen. Gemeinsam mit den Brüdern Müllers wollen sie einen Fluchttunnel unter den Grenzanlagen graben. Das Baugelände in unmittelbarer Nähe des Springer-Hochhauses in der Kochstraße (Berlin-Kreuzberg) scheint ihnen günstig, da es „kaum von Wachkräften der Sowjetzone“ überwacht würde, wie es in einer Erklärung des inzwischen verstorbenen Erdelbrock heißt, die am zweiten Verhandlungstag im Moabiter Gericht verlesen wird.

Die Bauaufsicht des Springer- Hauses entdeckt den Tunnelbau. Hausmeister Hammerschmidt arbeitet daraufhin teilweise mit bei den Schachtarbeiten. Springer weiß also von dem Vorhaben und unterstützt es. Mitte Juni 1962 stößt der Bautrupp nach zweimonatigen Arbeiten durch eine Kellerwand des Hauses Zimmerstraße 56 im Ostteil Berlins.

Müller informiert über eine bekannte Studentin seine Angehörige, auch die von Erdelbrock. Sie sollen am 18. Juni, dem Tag der Flucht, in der Nähe der Zimmerstraße, auf dem Dönhoffplatz auf Müller warten. Müller kriecht gegen 18 Uhr durch den 22 Meter langen Stollen, geht die Jerusalemer Straße zum vereinbarten Treffpunkt entlang. Sein Komplize beobachtet vom Westteil das Geschehen. Müller trifft nur auf seine Angehörige, die Erdelbrocks sind in eine Paßkontrolle geraten. Wenig später verlangt der Gefreite Reinhold Huhn auch von der Gruppe um Müller die Papiere. Bis zu diesem Zeitpunkt sind die Ereignisse unstreitig, nun beginnt der Bereich widersprüchlicher Aussagen.

Eine Zeugin, die zum Zeitpunkt in der Zimmerstraße 56 wohnte, sagt am ersten Verhandlungstag vor Gericht, sie habe beobachtet, wie ein Zivilist plötzlich die Waffe gezogen und einen Grenzsoldaten niedergeschossen hätte. Beobachter Erdelbrock ist die Szene entgangen, er habe aber eine Gewehrsalve und mehrere Schüsse gehört, auch eine Leuchtkugel sei verschossen worden. In der Anklageschrift heißt es: Der Angeklagte habe in die linke Innentasche seines Jacketts gegriffen, vorgetäuscht, den Ausweis hervorzuziehen, tatsächlich habe er aber eine Pistole des Kalibers 7,65 herausgeholt und folglich „gab (er) auf den zuvor mit einer Maschinenpistole bewaffneten, jedoch situativ gänzlich arglosen Gefreiten aus kurzer Entfernung mit Tötungsabsicht einen Schuß auf die Brust ab“. Im Vorfeld der Verhandlung legte Müller ein Teilgeständnis ab. Er habe auf Huhn geschossen, doch sei das als Notwehr zu interpretieren. Der Fall Müller – das ist auch ein Beispiel für eine aufwendige Ideologieschlacht dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs. Bild titelte damals: „Schießwütige Vopos töteten eigenen Posten“. Das Neue Deutschland bezeichnete dies als „infame Lüge um einen gemeinen Mord“, vielmehr sei Huhn „meuchlings ermordet“ (worden). Auf einer Pressekonferenz, die unmittelbar nach der Flucht im Springer-Hochhaus stattfand, gab Müller noch zu, „einmal“ auf Huhn geschossen zu haben. Danach sollte er sich an eine andere Version halten. Wie sie zustande kam, hatte der heute 66jährige Müller 1997 in den richterlichen Vernehmungen geschildert. In dem Schriftstück, das im laufenden Verfahren vom Gericht verlesen wurde, schildert er, wie in Westberlin ein Staatsschutzbeamter zu ihm sagte: „Geben Sie die Waffe her. Sie haben nicht geschossen. Wenn Sie etwas anderes sagen, haben sie keine Ruhe mehr.“ Ein US-Geheimdienst, der ihn aus Berlin ausflog und für drei Wochen in ein Lager steckte, habe ihm schließlich geraten, bei dieser Version zu bleiben. Er solle nur sagen, daß er, Müller, den Posten mit einem Fausthieb niedergestreckt habe. Anfang der 60er wurden im Westen die Ermittlungen gegen Müller eingestellt. Die DDR hingegen machte den Grenzpolizisten Huhn posthum zum Helden. Die Trauerfeierlichkeiten wurden mit großem staatlichen Aufwand begleitet. Unweit des Tatorts in Ostberlin ließ man ein Denkmal errichten, eine Straße trug seinen Namen. Denkmal wie Straßenname bestehen heute nicht mehr, da, so verkündete eine „Kommission zum Umgang mit den politischen Denkmälern der Nachkriegszeit in Ost-Berlin“ 1993, solche Mahnmale auf die Mehrzahl der Mitbürger, vor allem aber auf Opfer des DDR-Regimes „in hohem Maße verletzend“ wirken würden.

Das Urteil gegen Müller wird Ende Februar erwartet. Markus Völker