■ Normalzeit
: Ach, Tschukotka!

Tschukotka nennt man eine in Marzahn lebende Jakutin zärtlich. Aber eigentlich heißt die Region hinter Jakutien so: die Tschukschen-Halbinsel vor Alaska. Nach dem Zerfall der Sowjetunion trat die russische Regierung 40.000 Quadratkilometer davon an die Amis ab. Sie verschenkte ohne Not ein „zweites Alaska“, wie Solschenizyn schimpfte. „Die Welt“ sprach von „40.000 Quadratmetern“ – und stellte Solschenizyn damit als bodenlosen Paranoiker hin. Aber mir soll es nur recht sein, wenn die Antikommunisten ihn fallenlassen.

Schlimmer als dieser Gebietsverlust dürfte sowieso die derzeitige Präsenz von Ami-Goldkonzernen auf der Tschukotka sein. Ihre brutale Politik wird dort nur noch von den US-Ölkonzernen überboten, die mit Kriminellen als Wachpersonal anrücken. Schon gibt es einen ersten Ami- Ölroman, der damit spielt, schwarze US-Schwerverbrecher einfach im Gulag auszulagern.

Im November weilte der berühmteste Tschukschen- Schriftsteller Juri Rytchéu im literarischen Colloquium am Wannsee. Seine Bücher, sämtlich im Unionsverlag erschienen, sind derzeit im Westen beliebter als im Osten, wo man die Literatur der vom Aussterben bedrohten Völker jetzt oft als Ethnokitsch abtut. Das sind Juri Rytchéus Werke jedoch mitnichten, auch wenn darin immer wieder Schamanen die Richtung weisen. Eine Alternativzeitung schrieb: „Seinem Volk geht es nicht gut. 80 Prozent Arbeitslose und Alkoholismus.“ Sein Übersetzer Leonhard Kossuth zitierte im Freitag den Autor: „Das einzige, was hoffen läßt, ist, daß die Tschukschen immer dort gelebt haben, wo andere, größere Völker nicht leben wollten.“ Dem Neuen Deutschland sagte er: „Ich bin es müde, davon zu sprechen. Unter der Alkoholisierung haben wir schon vor der Sowjetmacht gelitten.“ In der Zeit sprach Lothar Baier demgegenüber einmal von einem „Arktischen Arkadien“. Dieses polare Traumland wird nun von Spiegel-TV und ZDF als wahre Horror-Halbinsel aufbereitet.

Mich interessiert jedoch etwas anderes: Anfang der dreißiger Jahre hatten die sowjetischen Leiter einer Funkstation auf der Wrangelinsel einige dort lebende Eskimos um ihren Lohn betrogen. Als ein Arzt und seine Frau versuchten, dagegen vorzugehen, brachten sie sie um. 1935 mußten sich die Täter in Moskau vor Gericht verantworten. Die Untersuchung führte Lew Schejnin, der später auch darüber schrieb. Der Ankläger war kein Geringerer als A.J. Wyschinski. Derselbe, der auch die berühmten Anklagereden gegen Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Jagoda etc. hielt. Während jedoch deren Verdammungen eher lieblos – und nur wenige Seiten lang waren, umfaßte seine Anklage gegen die zwei bolschewistischen Verbrecher auf der Wrangelinsel sage und schreibe 90 Seiten.

Schejnins Buch sowie Wyschinskis „Gerichtsreden“ wurden später von der DDR übersetzt. In einem Interview erwähnte Juri Rytchéu 1991, daß er daraus einen Roman machen wolle. Als er jetzt am Wannsee weilte, rief ich ihn an und bat um ein Treffen. Zu spät: Er war bereits am Abreisen. Dennoch hatte ich insofern Erfolg, als ich von ihm erfuhr, daß der Roman längst geschrieben – und sogar schon auf Deutsch erschienen ist: „Unter dem Sternbild der Trauer“. Den „sonderbaren Umstand, daß in diesem Prozeß kein einziger Eskimo Zeuge war“, hatte Rytchéu dergestalt künstlerisch gerächt, daß der Mordfall bei ihm nun von einem Schamanen aufgeklärt wird, der die Wahrheit „durch den Ärmel seines alten, aus Walroßdarm genähten Mantels“ halluziniert. Rytchéus letzter Roman heißt „Unna“ und handelt von einer Tschukschin, die laut Klappentext fern von ihrer Heimat im Westen – in einem Zwiespalt zwischen Anpassung und Ablehnung – lebt. Hat der Autor dabei etwa „unsere“ Marzahner Tschukotka im Blick gehabt? Helmut Höge