Freiheit von der Alm

Florian Flickers Spielfilm „Suzie Washington“: Ein Roadmovie aus Österreich legt lauter falsche Fährten und entdeckt dabei nicht weniger als das Wunderbare  ■ Von Elisabeth Wagner

Manchmal braucht ein Film ein bißchen länger, um in den Köpfen seiner Zuschauer anzukommen. Die Zeit geht dahin, womöglich eine halbe Stunde, und alles scheint vorhersehbar. Bis sich die Qualität der Bilder eigentümlich zu verändern beginnt und plötzlich etwas anderes, wirklich Ausdrucksstarkes vordringt. „Suzie Washington“, der zweite Spielfilm des österreichischen Regisseurs Florian Flicker, ist solch ein Spätzünder.

Im Landeanflug auf den Wiener Flughafen kommt die Erde allmählich näher. Nana sieht sie aus dem Fenster. Sie will weiter in die USA zu ihrem Onkel. Ein neues Leben beginnen. Österreich soll ein flüchtiger Zwischenaufenthalt bleiben. Und bleibt es natürlich nicht. Denn schon wenig später sitzt die schmale Frau vor einer dicklichen Beamtin vom Zoll. Ihr Paß ist gefälscht, und sie muß Fragen beantworten. Ja, sie stamme aus einem Land der ehemaligen Sowjetunion, ja, sie sei verheiratet gewesen, Lehrerin für Russisch und Französisch, nein, sie habe keine Kinder. Mehr paßt nicht auf den Fragebogen. Mehr ist Nana (Birgit Doll) nicht bereit zu sagen. Die Ausreise wird ohnehin verweigert, der Aufenthalt in Österreich strikt verboten.

Als wolle der Film jeden Funken Hoffnung für immer aus seinem Repertoire streichen, läßt er seine Hauptdarstellerin durch die langen, blankgeputzten Flure des Flughafens irren. Die Kamera blickt ihr nach wie einem verlorenen Kind, das sich ziellos an Hauswänden entlangschleicht. Ein bißchen kokett wirkt das, redundant und selbstverliebt. Ohne Zweifel, dem Film droht an dieser Stelle bereits die vorschnelle Ermüdung. Ein Tempowechsel muß her, und zwar noch bei Zeiten.

Schon am nächsten Morgen gelingt Nana die Flucht. Während ein anderer Flüchtling verhaftet wird, kann sich die schöne Georgierin unverdächtig in die Schlange einer Reisegruppe einreihen. Der Atem des Films geht auf einmal merklich schneller. Schnörkellos und offen erklärt sich der Film ab jetzt zum Roadmovie. Und nicht nur der Film, auch Nana ändert ihre Identität. Sie leiht sich den Namen ihrer Sitznachbarin im Bus, nennt sich Suzie Washington und macht sich davon. Der Film folgt ihr mühelos, mit einer Kamera, die ausschließlich situationsbezogen arbeitet. Man glaubt, hinter jeder Ecke lauere die endgültige Niederlage, und muß Nanas Mut der Verzweiflung bewundern: Wenn sie etwa den Hobbyfischer am See fragt, ob er sie mit seinem Boot an das andere Ufer übersetzen könne, gleich nachdem sie den spärlichen Rest ihrer Habe, den sie mit sich schleppte, auch noch verloren hat.

Ohne Geld, ohne Paß übernachtet sie in einem Hotel. Sie leert die Minibar, läßt sich von ihrer Bootsbekanntschaft (August Zirner) zum Abendessen ausführen. Männer bieten für „Suzie Washington“ die Chance zum Weiterkommen. Erst ein Fischer, dann ein Fernfahrer, der Nana ein Stück weit Richtung Grenze mitnimmt. Sie reagieren auf ihre Verlorenheit, auf ihre Stärke oder auf beides. Florian Flicker, der nach „Halbe Welt“ (1993) mit „Suzie Washington“ seinen zweiten Spielfilm vorlegt, läßt das in der Schwebe. Er kann es in der Schwebe lassen, weil es ihm das Gesicht seiner Hauptdarstellerin Birgit Doll erlaubt. Ein durchscheinendes, bewegliches und zugleich sehr fernes Gesich ist das.

Überhaupt versteht sich „Suzie Washington“ auf das mimische Spurenlesen, ist aber trotz mancher Neigung dahin doch kein Schauspielerfilm. Es ist sein Drehbuch, das den Film funktionieren läßt. Seine kleinen, schwerelosen Bildeinfälle. In einem Sessellift etwa bringt der Film Suzie ins Gebirge auf die Alm. So als ob ihre Flucht ein Ausflug wäre. Tatsächlich nimmt sich der Film, und als Roadmovie muß er das tun, seine Freiheiten vom Ernst und der Traurigkeit der Flüchtlingsgeschichte und spielt großzügig mit der Erfahrung des Wunderbaren. Da gibt es einen Almwirt (Wolfram Berger), der eine große Liebe für die Fremde hat. Da taucht plötzlich eine Französin auf, deren Paß wie für Suzie gemacht ist. Die Szenen bekommen mehr und mehr von einer selbstironischen Leichtigkeit. So als ob nicht nur die einsame Heldin, sondern auch der Film selbst sich befreien wollte. Daß diese Befreiung schließlich gelingt, hängt dann vor allem damit zusammen, daß Flicker weder den Plot noch die eigene Ästhetik überbeansprucht.

„Suzie Washington“ zwingt sich keine Großartigkeiten, keine erhabenen dramatischen Perspektiven ab. Nichts übertönt den kleinen, feinen Ton der Geschichte, die ihrer Protagonistin am Ende sogar ein Schweben und den Aufbruch in ein zweites Leben gestattet.

„Suzie Washington“. Regie: Florian Flicker. Mit Birgit Doll, August Zirner, Karl Kratzl u.a. Österreich 1998, 87 Min.