Polit-Alien im Video-Wunderland

Wie der Zufall so spielt: Die Neujahrsansprache des Kanzlers wird zuerst vom Musiksender MTV ausgestrahlt – und Schröders Topthema sind die „lieben Jugendlichen“  ■ Von Markus Völker

Berlin (taz) – Bei der Nachricht konnte man sich leicht vertun. Nicht auf n-tv, dem Nachrichtensender, wird die Neujahrsansprache des Kanzlers zuerst übertragen, sondern auf dem Popkanal MTV.

Wo der MTV-Konsument sonst Schnitte im Sekundentakt und bewegliche Kameraeinstellungen zu sehen gewohnt ist, wird er an Silvester um 18 Uhr auf das Konterfei von Gerhard Schröder blicken, „vermutlich mit Schrankwand und Blumen im Hintergrund und ohne einen Schnitt“, wie die Süddeutsche Zeitung vermutet.

Eine Sprecher von MTV verkündete, die Erstausstrahlung sei „logische Konsequenz des Ausgangs der Wahlen“. Viele junge Leute hätten Rot-Grün gewählt, ihnen könnten also auch die „O-Töne des neuen Kanzlers“ in der Länge von etwa sechs Minuten zugemutet werden.

MTV-Programmdirektor Christofer Sebald erklärte die Ausstrahlung gegenüber der taz mit einem Umbruch bei MTV. Der Sender wolle verstärkt deutsches Programm senden, „deutsche Belange den Jugendlichen nahebringen. Wenn wir dem Publikum zudem so etwas Einzigartiges liefern wie die erste Ansprache des neuen Kanzlers im Jahr der Jahrtausendwende“, dann sei das ein Zugeständnis an das gestiegene Politikinteresse des Publikums.

Der Musiksender hatte bereits die Wahlen im September live gezeigt. Die Ausstrahlung von politischen Sendungen stehe nicht im Widerspruch zur bisherigen Sendeschiene, betont Programmdirektor Sebald.

Die Neujahrsansprache wird vom Bundespresseamt ab 18 Uhr freigegeben, ursprünglich war dies für 13 Uhr geplant. Offenbar wollte das Bundespresseamt eine Nachmittagsausstrahlung der Neujahrsansprache auf MTV verhindern. Der Sender wollte Schröders Rede zuerst schon um 15 Uhr senden. Der frühe Zeitpunkt erschien dem Bundespresseamt dann für die Erstpräsentation der Kanzler- Ansprache wenig passend.

Nach Ablauf der Sperrfrist steht es jedem Sender frei, den Ausstrahlungstermin zu wählen. Das ZDF bringt Schröders Rede nach der „heute“-Sendung, die ARD erst um 20.05 Uhr. Helmut Reitze, stellvertretender Chefredakteur des ZDF, sagte auf Anfrage der taz, die Öffentlich-Rechtlichen reagierten mit äußerster Gelassenheit auf den Vorstoß von MTV: „Da entsteht kein Schaden für uns, wir bleiben beim prominenten Nachrichtenplatz.“

Als hätte Schröder geahnt, wo seine Rede zuerst ausgestrahlt wird, widmet er dem jungen Publikum mehrere einleitende Absätze. Im Wortlaut: „Ich möchte mich heute zuallererst an Sie, an die jungen Menschen in unserem Land wenden – obwohl Sie am Neujahrstag sicher nicht unbedingt an Politik denken. Ihnen, den jungen Frauen und Männern in Deutschland, will ich sagen: Sie werden dringend gebraucht. Nur mit Ihnen gemeinsam können wir unser Land in eine Zukunft führen, in der es gerecht zugeht für die Menschen und gerecht auch für die Umwelt.“

Wenn der MTV-Seher an dieser Stelle nicht schon zum Konkurrenten Viva gezappt ist, dann kann er weiter vernehmen: „Deshalb schlage ich Ihnen ein Abkommen vor: Wir tun alles dafür, daß Ihnen Bildung und Ausbildung offenstehen und Sie Ihren Platz einnehmen können: in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Arbeitswelt. Und dafür versprechen Sie, liebe Jugendliche, Ihre Fähigkeiten, Ihre Kreativität und Ihre Unternehmungslust einzusetzen.“

Viva-Chef Dieter Gorny hält von der staatstragenden Präsentation des Konkurrenten wenig. „Das ist publicityträchtige Oberflächlichkeit, das geht an den Kids vorbei. MTV ist nun mal nicht die ARD.“ Er könne sich als angemessene Darstellung vorstellen, „ein politisches Alien ins Viva-Deko“ zu stellen und der „ehrlichen Unbefangenheit der Moderatoren“ auszusetzen. „Das“, so Gorny, „wirkt überzeugender und manchmal entlarvender als eine antiquierte Neujahrsansprache.“