Politzensur in der Sowjetunion war auch eine Hilfe zur Orientierung

■ Die Geschichte der sowjetischen Rockmusik ist keine Geschichte des politischen Kampfes. Den Musikern ging es viel mehr um existentielle Probleme als um gesellschaftliche Gegenentwürfe. Doch auch das war in der UdSSR ein revolutionärer Akt

Es geschah im Sommer 1996, am Vorabend der Präsidentenwahl. Der frühere Generalsekretär der Kommunistischen Partei und Expräsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, machte Wahlkampf in St. Petersburg.

Um auch jüngere Wähler für sich zu gewinnen, besuchte Gorbatschow das Grab des Rockpoeten Viktor Tsoi, der 1990 im Alter von 28 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Als er starb, hatte Gorbatschow noch kaum gewußt, daß es ihn und seine legendäre Band „Kino“ überhaupt je gegeben hatte. Inzwischen war Tsoi jedoch zur Ikone des neuen Rußland geworden, und der Staatsmann brauchte einen Fototermin im Schatten seines Grabes.

Wie so vieles in der Kulturszene Rußlands war auch die Rock'n'Roll-Welle Mitte der sechziger Jahren aus dem Westen herübergeschwappt. Das ging vor allem auf das Konto der „Beatles“. Die meisten Gruppen der ersten Welle des Sowjetrock betrachteten diese Band als wichtigste Inspirationsquelle für ihre Musik. Es waren indes vor allem die „Rolling Stones“, die der damaligen Kulturministerin Valentina Furtseva das Fürchten lehrten. Als sie 1967 bei einem Stones-Konzert in Warschau zu Gast war, soll sie gesagt haben: „In unserem Land wird es das nicht geben.“ Die sowjetischen Behörden kämpften von Anfang an darum, das Phänomen Rockkultur in ihren eisernen Griff zu bekommen.

Anders als ihre westlichen Vorbilder wollten die sowjetischen Rockmusiker und ihr Publikum nicht unbedingt „Satisfaction“. Ihnen reichte die künstlerische Unabhängigkeit. In ihren Texten ging es selten oder nie um Sexualität, und man griff auch nicht die sowjetische Militärmacht mit Antikriegssongs an. Man opponierte weder gegen den Einmarsch in Afghanistan 1979, noch attackierte man Rassismus oder gar die kommunistische Ideologie. Zumindest nicht offen.

In der sowjetischen Rockszene ging es nur darum, die eigenen existentiellen Probleme in Worte und Klänge zu fassen. Genau das aber war revolutionär in einer Gesellschaft, in der jede Aktivität, die sich außerhalb staatlicher Institutionen abspielte, ob Briefmarken sammeln oder Rockmusik machen, von der herrschenden Partei als politische Provokation empfunden wurde.

„In unserem Land traf der Ruf nach Freiheit auf einen völlig anderen Resonanzboden“, sagt der russische Rockkritiker Artyom Troitsky. „In allen Bereichen des Lebens wurde der einzelne Mensch unterdrückt oder zu etwas gezwungen. Der totale Mangel an Freiheit, das totale Fehlen von Wahrheit: Das waren die Themen, die uns in den ersten Boomjahren des sowjetischen Rock beschäftigten. Und das sind auch die Themen, die in jeder Geschichte über den Rock in der Sowjetunion im Mittelpunkt stehen müssen.“

Und es seien die Texte gewesen, mehr als der Beat, fügt er hinzu, die die treibende Kraft des Rock bei ihnen gewesen sei. „In diesem Land ist es immer schon wichtiger und gefährlicher gewesen, seine Meinung frei zu äußern. Und Rockmusik flirtet natürlich mit der Gefahr.“ Sie wurde sofort Teil einer Gegenkultur, die im totalitären Staat durch alle Künste hindurch existierte. Wie die Literatur wurde auch der Rock zum Forum für eine freie und offene Diskussion.

Und Rockmusiker wurden ebenso wie Schriftsteller, Journalisten und Maler verfolgt, wenn sie sich weigerten, die offizielle Linie zu vertreten. Andrei Romanov, Chef der Gruppe „Voskresenie“ (“Auferstehung“), wurde in den frühen achtziger Jahren verhaftet, Jury Shvechuk mußte mit seiner Gruppe „DDT“ aus der Provinzstadt Ufa nach Leningrad flüchten, weil man sie dort nicht in Ruhe ließ.

Mitte 1983 wurde ein Erlaß des Kulturministeriums herausgegeben, nachdem achtzig Prozent des Repertoires einer Rockgruppe von Komponisten geschrieben sein mußten, die Mitglied der Gewerkschaft der Komponisten waren. Da keiner der Rocker Mitglied dieses exklusiven Klubs war, hatte der Erlaß nur das Ziel, ihnen das Leben noch ein bißchen schwerer zu machen.

Ein weiterer Erlaß des Kulturministeriums verbot 1984 insgesamt 41 sowjetischen Bands, in der Öffentlichkeit aufzutreten, darunter waren „Bravo“, „Cent“, „Akvarium“, „DDT“ und „Nautilus Pompilius“. Die Begründung: Ausländische Touristen würden sich allzusehr für diese Konzerte interessieren. Verboten wurden auch 34 westliche Künstler, darunter Julio Iglesias und Iron Maiden sowie Pink Floyds Album „The Final Cut“, dessen Zeile „Brezhnev took Afghanistan / Begin took Beirut / Galtieri took the Union Jack“ dem Ministerium Kopfschmerzen machte. Es folgte ein generelles Verbot in Moskau von „jedweder Musik, die unser Leben verzerrt wiedergibt und Propaganda macht für Ideale und Haltungen, die unserer Gesellschaft fremd sind“.

Mit Glasnost wurde 1987 die sowjetische Welt von oben nach unten gekehrt, und Rock wurde zum integralen Bestandteil offizieller Kultur. Die berühmtesten Bands wurden eingeladen, im Fernsehen aufzutreten, und von ihren Platten verkauften sich Millionen. Mit der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 und der Einführung der Marktwirtschaft war die Zeit der totalen Freiheit in der Rockszene angebrochen.

„Auf der einen Seite hat der Rock durch die Demokratisierung gewonnen“, sagt Troitsky, „aber auf der anderen Seite auch seine Monopolstellung verloren. Rock war eines der wenigen Gelände, wo ein Tier namens ,Wahrheit' frei herumlaufen konnte.

Jetzt darf es überall hin. Und viele Publikationen unserer freien Presse zeigen, daß sie besser durchblicken, tiefer gehen und einfach intelligenter sind als die oft kindischen Ergüsse unserer Rockstars.“

Slava Butusov, Liedermacher, Gitarrist und Sänger von „Nautilus Pompilius“, einer der populärsten Bands der achtziger Jahre, beschreibt die Situation vor und nach dem Fall der Zensur so: „Ich will nicht sagen, daß das gute alte Zeiten waren. Es war eine graue und gräßliche Zeit, aber in gewisser Weise war es damals einfacher. Wer den Mut hatte, sich auf die Bühne zu stellen und ein paar kritische Worte zu singen, war damit gleich Mitglied einer Avantgarde.

Keiner kümmerte sich weiter um künstlerischen Ausdruck, Form und Inhalt, solange man etwas Kritisches sagte. Heute dagegen wird man an seiner Professionalität gemessen. Das ist wie ein Gang auf offenes Gelände, wo man die Freiheit hat, jede Richtung einzuschlagen. Das ist nicht so einfach.

Wenn jemand ein Schild aufstellt, wo draufsteht, was verboten ist, ist das leichter: Man muß nur einen Weg finden, die Verbote zu umgehen, um trotzdem vorwärts zu kommen. Aber in künstlerischer und existentieller Hinsicht ist es das schwierigste, auf offenem Feld zu landen, wo man sich selbst entscheiden muß und keiner versucht, einen zu beeinflussen.“ Flemming Rose

Flemming Rose war sechs Jahre lang bis 1996 Korrespondent der Kopenhagener Zeitung Berlingske Tidende in Moskau