Den eigenen Exitus erforschen

Das russische Wissenschaftssystem steckt in einer tiefen Krise. Eine Tagung in Mülheim zeichnete ein düsteres Bild der Zukunftsaussichten einer einst blühenden Forschungslandschaft. Ein Bericht  ■ von Wiebke Rögener

Die russische Wissenschaft ist krank – darüber waren sich alle einig, die sich Ende November in der Evangelischen Akademie Mülheim versammelten. Unter dem Titel „Verlorene Wissenschaft – verlorene Zukunft?“ diskutierten Deutsche und Russen die schwierige Situation des Patienten.

Von einer tiefen Krise der russischen Wissenschaft war viel die Rede. Anne Hartmann vom Institut für Russische und Sowjetische Kultur der Ruhruniversität Bochum war selbst dieser Begriff noch zu hoffnungsvoll: Eine Krise impliziere immer, daß sich eine Entscheidung anbahnt. Entweder verschlechtert sich der Zustand des Kranken bis hin zum Tod oder es kommt zur Heilung. „Ich habe eher den Eindruck, daß man von chronischem Siechtum sprechen muß“, so Hartmann.

Sie schilderte, wie es zu diesem Zustand kam: Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb das Wissenschaftssystem zunächst – wenn auch in verkleinertem Maßstab – erhalten. Aus der Akademie der Wissenschaften der UdSSR wurde die Russische Akademie der Wissenschaften; die Hochschulen blieben der Einflußsphäre verschiedener Ministerien untergeordnet.

Das staatliche Entwicklungsprogramm für die Hochschulbildung von 1991 sah eine Dezentralisierung und Demokratisierung, Vielfalt der Lehrformen sowie mehr Effizienz vor. Weitere Gesetze erweiterten die Handlungsspielräume der Hochschulen. Doch sollten sie sich auch zunehmend selbst finanzieren. Angesichts der schwierigen wirtschaftliche Lage erwies sich dies als nicht eben einfach.

Ein probates Heilmittel für die notleidenden Hochschulen, das auch vielen deutschen Bildungsfachleuten nicht fremd ist, war schnell zur Hand: Studiengebühren. Wer die obligatorischen Aufnahmeprüfungen nicht besteht, kann sich dennoch einschreiben – wenn er bereit und in der Lage ist, zwischen tausend und dreitausend US-Dollar pro Jahr zu bezahlen. Begehrte Studiengänge wie Jura, Fremdsprachen oder Wirtschaftswissenschaften erzielen so erhebliche Einnahmen, berichtete der russische Physiker Alexei Privalow, der zur Zeit an der Bochumer Universität tätig ist.

Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung gingen in Rußland in der Zeit von 1990 bis 1997 auf etwa ein Viertel der ursprünglichen Summe zurück, errechnete Valeri Petrosjan, Professor für Umwelttoxikologie an der Moskauer Lomonossowuniversität. Das ist etwa ein Zwanzigstel des US-amerikanischen Forschungsbudgets. Und nur wenig mehr als zehn Prozent der russischen Forschungsgelder gehen in die Grundlagenforschung.

Das Wissenschaftsgesetz von 1996 sah vor, vier Prozent des Haushalts für die Wissenschaft bereitzustellen. Tatsächlich wurden daraus nur 2,4 Prozent. Und statt der angepeilten Steigerung fiel der Anteil 1998 sogar auf 1,8 Prozent. Die Zahl der wissenschaftlichen Einrichtungen ging in den letzten fünf Jahren von 4.300 auf etwa 2.700, die der dort Beschäftigten von 1,3 Millionen auf weniger als eine halbe Million zurück.

Studien- und Forschungsaufenthalte im westlichen Ausland erfreuen sich nicht nur aus Gründen des wissenschaftlichen Austauschs großer Beliebtheit. Von dem Geld, das etwa ein Stipendiat der Humboldtstiftung während eines dreimonatigen Aufenthaltes in Deutschland erhält (netto zwischen 3.600 und 4.400 Mark pro Monat), berichtete die russische Chemikerin Irina Perminowa, könne er anschließend in Rußland noch neun Monate leben.

Eine hieraus resultierende Wissenschaftlerflucht auf der einen Seite und die sinkende Attraktivität akademischer Berufe auf der anderen Seite haben Folgen: „Unsere Wissenschaft wird älter“, beklagt Irina Perminowa. Im Gegensatz zu früher gäbe es kaum noch Projektleiter, die jünger als dreißig Jahre sind. „Wissenschaft kennt keine Grenzen“, behauptet der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) in seinem vor einem Jahr erschienen Kompendium „Universitäten und Hochschulen in der Russischen Föderation“. Doch geht es um konkrete Kooperationsprojekte mit russischen Partnern, nimmt die prinzipielle Unbegrenztheit oft die Gestalt von Beschränkungen an: geringes Wissen um die russische Forschungslandschaft, Vorbehalte gegenüber einer Wissenschaft, die vermeintlich oder tatsächlich in manchen Bereichen nicht auf dem neuesten Stand ist, und nicht zuletzt organisatorische Probleme machen eine Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Wissenschaftlern nicht einfach.

Immerhin etwa 130 von insgesamt 448 im Kompendium verzeichneten Hochschulen unterhalten Partnerschaften mit deutschen Universitäten. Ein Großteil dieser Kontakte beschränkt sich allerdings auf die Regionen Moskau und St. Petersburg. Nur wenige deutsche Wissenschaftler wagen sich in die Provinz. Die Zahlen der Humboldt-Stiftung, die Gastwissenschaftler aus aller Welt fördert, zeigen dagegen, wie attraktiv Forschungsaufenthalte in Deutschland für russische Forscher sind: 1997 arbeiteten 131 Humboldtstipendiaten aus der russischen Föderation an deutschen Forschungseinrichtungen. Damit waren sie nach China und den USA die drittgrößte Gruppe von Gastwissenschaftlern.

Auf der Mülheimer Tagung waren sich alle einig: Zumindest die Naturwissenschaften befinden sich immer noch auf einem hohen Stand; in den Gesellschaftswissenschaften seien, gemessen an westliche Standards, die Defizite sehr viel größer. Für diese Kluft wurden unterschiedliche Gründe genannt. Dazu gehörte die bevorzugte Förderung von Technik und Naturwissenschaften durch den sowjetischen Staat und nicht zuletzt durch das Militär.

Doch während Fächer wie Wirtschaftswissenschaften heute zumindest den russischen Studenten attraktiv erscheinen, läßt sich der hohe Stand der naturwissenschaftlichen Forschung ohne entsprechende Finanzmittel nicht aufrechterhalten: Geräte können weder erneuert noch repariert werden, und oft liegen sie wegen unbezahlter Stromrechnungen sowieso längst still. Alexei Privalow, als Physiker zu Gast an der Universität in Bochum, fürchtet daher: Rußlands Wissenschaft ist auf dem Weg, auf den Stand eines Entwicklungslandes abzusinken.

Wiebke Rögener, 42, ist promovierte Biologin und arbeitet als freie Wissenschaftsautorin in Willich.