Dämmerung um halb zwei Uhr nachmittags

Eine Reise nach Stockholm lohnt sich am meisten im Januar. Es ist zwar kalt, dafür stören andere Touristen nicht beim Gang durch eine Stadt, die sich seit zehn Jahren stark verändert. Vor allem in Söder, einem Migranten-, Arbeiter und Studentenviertel, hat sich ganz unschwedisch ein veritables Nachtleben etabliert. Ein Reisebericht  ■ von Jan Feddersen

Die Autos auf der Humlegardsgatan nehmen auf Fußgänger nur Rücksicht, wenn es unbedingt sein muß. Steht eine Ampel auf Rot, bremsen sie. Ansonsten prescht das autofahrende Volk mit den eben erlaubten fünfzig Stundenkilometern über diese Straße, an deren Rändern nur Geschäfte für die etwas zahlungskräftigere Kundschaft zu finden sind. Spaziergänger springen zur Seite, um nicht vom Schneematsch getroffen zu werden.

Die meisten Menschen gehen sowieso in die Einkaufspassage vom Stureplan. In einer Wohnung dieses gediegenen Backsteingebäudes befand sich in den vierziger Jahren ein konspirativer Ort, an dem Informationen von der Kominternzentrale in Moskau aufgenommen wurden, um sie nach Nazideutschland zu schicken. Peter Weiss hat darüber berichtet. Der schwedische Schriftsteller, 1982 gestorben, nachdem er seine Trilogie zur „Ästhetik des Widerstands“ vollendet hatte, emigrierte Anfang der dreißiger Jahre vor den deutschen Machthabern nach Schweden.

Ein dankbarer Gast und später Staatsbürger seiner Majestäten wurde Weiss nie. In seinen Notizbüchern klagt er an mehreren Stellen über die rüpelhaften Stockholmer, die allesamt offenbar glaubten, daß es außer ihnen niemanden auf der Welt gibt, der Barmherzigkeit verdient hätte. Führen die reichen Hauptstädter sommers in ihre Häuser auf den kleinen Schäreninseln vor der Stadt, täten sie dies mit ihren Privatbooten und mißachteten dabei jede Vorfahrtsregel.

Vor allem aber im Winter entdeckte Peter Weiss an den Stockholmern bornierte und arrogante Charaktereigenschaften. Dann rempelten sie in den Geschäften andere Menschen rüde an; fluchten und meckerten ohne Gelassenheit über alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Und tatsächlich wirkt Deutschland, hat man in Schweden einmal versucht, in einem Geschäft freundlich bedient zu werden, wie ein Prototyp der Dienstleistungsgesellschaft.

Besonders im Januar wird die Weihnachtsenttäuschung an den Mitmenschen ausgelassen. Alles, was beim Fest der Liebe doch nicht so kam, wie man es sich so sehr wünschte, wird heruntergeschluckt – was sich in den verkniffenen Gesichtern spiegelt; oder herausgeschnauzt, was einem an jeder Kreuzung passieren kann, wenn man nicht beim Umschalten der Ampel auf Grün gleich losfährt.

Doch seltsamerweise legt sich diese Nervosität, wenn es dunkel wird. Und hell, taghell, ist es in Stockholm im Januar eigentlich nur zwischen zehn Uhr am Vormittag und halb zwei am Nachmittag. Danach beginnt die Dämmerung, bis es gegen vier Uhr stockduster ist. Plötzlich klingen die Schritte der Passanten gedämpfter, haben die Eisangler am Mälarensee genau unterhalb des Reichstages aufgeräumte Laune, das Museumspersonal guckt nicht mehr so, als fühlte es sich von den Besuchern bloß belästigt. Gewiß, das Viertel um den Sergels Torg, wo in den sechziger Jahren der ganze sozialdemokratische Haß auf gediegene Bürgerlichkeit dazu führte, daß ein Stadtteil mit alten Häusern zugunsten einer Betonwüste planiert wurde, sieht häßlich aus, bei Tag und erst recht bei Nacht.

Aber Gamla Stan, diese zentrale Insel Stockholms mit ihren Gassen und Sträßchen, dieses Verbindungsstück zwischen dem nördlichen und südlichen Teil, sieht dann aus, als wollte sie eine nostalgische Filmkulisse für Ingmar Bergman bieten. Lädchen mit Lämpchen überall: Schummrigkeit als Programm. Selbst die Stadtresidenz des Königspaares, höchster Punkt auf den Felsen Gamla Stans, hat nicht mehr sein etwas überproportioniertes Flair.

Ein Januar in Stockholm. Wer jetzt mit einem Stockholmer ins Gespräch kommt, bekommt wieder und wieder zu hören: Ach, wie schön wird der Mai, der Frühling, der Sommer... Und dieser jahreszeitlich bedingte Kummer spiegelt sich abends in überfüllten Kneipen. Und die meisten von ihnen findet man auf Södermalm, wie der Stadtteil südlich des Malären und der Ostsee heißt.

Dort wurde im Laufe der letzten zwanzig Jahre fast alles umgebaut, umgewühlt und städteplanerisch neu konzipiert, was in einer alten Stadt noch möglich ist. Die alten Bauten rund um den Mosebacken, wo sommers Biergärten geöffnet haben, blieben bei dieser Planung stehen; heute werden Gemäuer aus dem vorigen Jahrhundert wenigstens als pittoresk, wenn schon nicht als modern geschätzt.

Hier auf Söder, wie die Stockholmer sagen, sind allabendlich die gastronomischen Betriebe voll. Das Viertel ist ganz unstockholmerisch quirlig. Viele Migranten, die zunächst hierher zogen, weil woanders in Stockholm die Mieten zu teuer waren, haben Restaurants eröffnet. Einige Etablissements tragen sogar zu gewisser Rotlichtatmosphäre bei. An der Gediegenheit Söders ändert das nichts. Nirgends ist es kaschemmig oder bruchbudig.

In diesem Quartier gab es vor vier Jahren die höchste Zustimmung bei der Abstimmung um den Beitritt zur Europäischen Union, fast achtzig Prozent der in Söder gemeldeten Schweden votierten für die EU. Wer in Stockholm trendy sein will, wer als Hipster anerkannt werden möchte, wohnt hier. Selbst das gigantische Neubauviertel um die Högbergsgatan, das während der vergangenen zehn Jahre aus dem Boden einer ehemaligen Fabrik gestampft wurde, schreckte nicht ab.

Im Gegenteil. Auch im Januar haben die Neubauten nichts von Tristesse. Die Architektur der Häuser entsprach dem Wunsch vieler Quartierbewohner, weiterhin in einem Mietshaus zu wohnen, aber es dort auch schön und individuell zu haben. So sehen etliche der meist nur vierstöckigen Bauten aus: einige zuckrige Zinnen hier, verwinkelte Terrassenfronten dort – und trotzdem nicht niedlich.

Söder als Stadtteil beweist, daß ein armes Quartier nicht notwendig hohe Kriminalitätsraten haben muß. Der Schriftsteller Jonas Gardell, dessen Bücher (“Die blaue Stunde“) auch ins Deutsche übersetzt wurden, sagt stolz, daß er nirgendwo anders leben möchte als in Söder. Die Menschen wüßten, wie man friedlich miteinander klarkommen kann. Rund um den Stureplan, wo die Reichen sich langweilen, meint er naserümpfend, sei es tot.

Nein, auch wenn er noch soviel Tantiemen verdienen würde, eine Wohnung in Östermalm, wo die Butterholzmesser schon zehn Mark das Stück kosteten, die würde er nicht beziehen wollen. Am liebsten, so Gardell, auch einer der populärsten Entertainer des Landes, seien ihm die Läden und Kneipen und Offtheater zwischen Götgatan und Medborgarplatsen.

Gardell räumt ein, daß es im Frühling und Sommer schöner ist, Stockholm zu entdecken. Dafür würden einen im Januar nicht dauernd an den besten Plätzen Touristen über den Haufen rennen. Aber wenn es wenigstens ein bißchen kälter wäre... Jetzt sind es zwei Grad plus; der Schnee seifig, die Straßen voller Pfützen mit Schmelzwasser. Im Globen, der Sporthalle, die Söder gen Süden begrenzt und aussieht wie ein riesiger Golfball, findet momentan ein Eishockeyturnier statt. Gegen zehn Uhr kommen noch einige Zuschauer, die einen Sieg ihrer Mannschaft feiern wollen, in die Kneipen.

Sie müssen sich beeilen, die Sperrstunde um elf Uhr droht. Trotz EU sehen die Läden, in denen Wein und Schnaps gekauft werden darf, immer noch aus wie DDR-Sparkassen mit gußeisernen Gitterstäben vor den Fenstern. Schweden verreisen noch öfter als die Deutschen, das heißt, sie wissen, daß es Länder gibt, in denen die Wirtshäuser, wenn sie wollen, rund um die Uhr geöffnet haben können.

Nichts davon auf Söder. Lapidar heißt es aus dem Gesundheitsministerium, Schweden habe nur wenig Alkoholiker, was gewiß auch an den limitierten Baröffnungszeiten liege. Ein Argument, das bei vielen Schweden sofort verfängt: Man will gesünder sein als der Rest der Welt, dafür verzichtet man auf Genußmittel. Motto: Bitte alles nur in Maßen.

Schönster Platz ist indes Slussen (“Schleuse“). Dort treffen sich das Salzwasser der Ostsee und das Süßwasser des Mälarsees. Ein Fahrstuhl (“Katarina Hiss“) bringt die Besucher von Meereshöhe auf das sechzig Meter hohe Plateau, auf dem Söder gebaut ist. Von oben ist der romantischste Überblick über die Stadt, vor allem in der frühen Dämmerung, selbst wenn es diesig ist: links die Bürgerhäuser oberhalb des Mälarsees, geradeaus Gamla Stan, etwas weiter rechts Skeppsholmen mit seinem kürzlich total renovierten Modernen Museum und dem Jugendherbergsschiff „Af Chapman“.

Rechts schließlich die Fährschiffe der Finnlandlinien, umspült von Eisschollen, daneben der Tierpark (“Djurgarden“), die noblen Häuser der Reichsten. Hier zu stehen kostet nichts – für Stockholm ungewöhnlich. Und man ist vor Autos geschützt, die durch Pfützen brettern und Passanten verdrecken.

Jan Feddersen, 41, Redakteur im taz.mag, lebt und arbeitet in Berlin und in der schwedischen Provinz