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Ein Silvester ohne Negativ-Rekorde

■ 1999 hat vollkommen durchschnittlich begonnen. Nur die Feuerwehr ist öfters ausgerückt als im Vorjahr. Es gab keine Toten, aber Schwerverletzte. Beim Neujahrslauf am Brandenburger Tor war die Welt wieder

Die Straße Unter den Linden präsentierte sich am Neujahrstag fast so strahlend wie der Himmel. Der knöcheltiefe Müll aus leeren Sektflaschen, Bierdosen und abgebrannten Feuerwehrskörpern war wie weggeblasen. Nur der Geruch von abgestandenem Alkohol erinnerte daran, daß auf der Vorzeigemeile nachts zuvor mit über 400.000 Besuchern Deutschlands Mega-Silvesterparty getobt hatte. Gestern Punkt 12.00 Uhr fiel am Brandenburger Tor der Startschuß für den Neujahrslauf. Das aus DDR-Zeiten stammende Ritual versteht sich als Veranstaltung des Breitensports. Dem buntgemischten Häuflein von rund 500 Teilnehmern waren die Ausschweifungen der Nacht deutlich ins Gesicht geschrieben. Nicht umsonst spricht man von „Ausnüchterungslauf“.

Nüchtern fiel auch die Bilanz der Polizei aus: „Silvester verlief ohne herausragende negative Höhepunkte.“ Zu tun gab es für Polizei und Feuerwehr aber reichlich. Bei einer Silvesterparty in der im Haus der Kulturen befindlichen Gaststätte „Schwangere Auster“ sind zwei Personen schwer verletzt worden. Ein 24jähriger Bosnier wurde nach dem Verlassen der Veranstaltung ins Bein geschossen. Kurz zuvor war drinnen ein 29jähriger niedergestochen worden. Die Polizei will einen Zusammenhang „nicht ausschließen“. Das Haus der Kulturen verwies darauf, daß es sich bei der Silvesterparty um keine Verstaltung des Kulturprojektes gehandelt habe. In einer Gaststätte in Friedrichshain schoß ein Gast einem Kellner zweimal mit einer Gaspistole ins Gesicht. Einer Kellnerin stach er mit einem Messer in den Rücken.

Beim unsachgemäßen Gebrauch mit Feuerwehrskörpern sind nach Angaben der Rettungsdienste wieder viele Menschen verletzt worden. Zahlen sollen erst Mitte Januar veröffentlicht werden. In Schöneberg wurden einem Mann beim Anzünden eines Böllers mehrere Finger einer Hand abgerissen. Er lief noch selbst zur Feuerwache. Sechs Telefonzellen wurden durch Feuerwerkskörper mutwillig zerstört. Bei der Explosion flogen die Splitter bis zu 45 Meter weit. Die Polizei geht davon aus, daß illegal eingeführte Sprengkörper verwendet wurden.

Ingesamt mußte die Feuerwehr 1.130mal ausrücken, 382mal zum Löschen von Bränden. Im Vorjahr waren es 103 Löscheinsätze weniger. In Charlottenburg stand ein Dachstuhl in Flammen. Die Polizei wurde zu 2.264 Einsätzen gerufen. Die häufigsten Gründe waren Streitigkeiten und Schlägereien. Die Stadtreinigung hatte bis gestern nachmittag etwa 100 Kubikmeter Müll zusammengekarrt. Das meiste davon rund ums Brandenburger Tor.

Der dortige Neujahrslauf ist ein Spendenlauf. Dieses Jahr sei das Geld für obdachlose Kinder bestimmt, sagte Moderator Heinz- Florian Oertel. Der Mann, der den Lauf 1972 ins Leben gerufen hat, ist wohl jedem Ex-DDRler aus seiner Zeit als Sportredakteur beim Berliner Rundfunk ein Begriff. So auch zwei Dresdnerinnen, die gestern am Straßenrand zuschauten. Lauthals lachend wiederholten die beiden Frauen Oertels Rundfunkkommentar von 1980, als Waldemar Cierpinski in Moskau beim Marathon für die DDR die Goldmedaille gewann. „Waldemar, Waldemar! So eine Wonne! Haben Sie Mut! Nennen Sie ihren Nachwuchs Waldemar!“ Plutonia Plarre

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