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Ein ganzes Jahr im Dopingrausch

Nie zuvor gab es so viele Dopingskandale wie 1998, aber diesmal wagt selbst IOC-Präsident Samaranch nicht zu behaupten, daß dies die Effizienz der Kontrollen beweise  ■ Von Matti Lieske

Als Juan Antonio Samaranch zum Auftakt der Olympischen Winterspiele in Nagano dem Internationalen Schwimmverband frohgemut bescheinigte, „gute Arbeit“ in Sachen Doping zu leisten, ahnte der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und professionelle Schönbeter alles Bösen im Sport kaum, was in diesem Jahr noch auf ihn zukommen würde. Und zunächst ging ja auch alles glatt. Fast alles.

Über die Vorgänge bei den Schwimm-Weltmeisterschaften im australischen Perth war Gras gewachsen, und auch die Spiele in Japan verliefen – wie gewohnt – ohne positive Urinproben, sieht man einmal von der des Snowboarders Ross Rebagliati ab, die Spuren von Marihuana aufwies. Grund genug für das IOC, sich aufs hohe moralische Roß zu schwingen und, als gäbe es nichts anderes, den Kampf gegen die weichen Drogen zur dringlichsten Aufgabe zu erklären. Quasi als oberste Gouvernante der Jugend der Welt, machten sich die Funktionäre daran, nicht nur wie bisher – eher schlecht als recht – den Wächter über sportliche Fairneß zu spielen, sondern sich zum Richter über den Lebenswandel der Sportlerinnen und Sportler aufzuschwingen. Rebagliati bekam seine Medaille zwar noch zurück, doch im April beschloß das IOC, das Verbot von weichen Drogen in die Olympische Charta aufzunehmen, obwohl diese nahezu übereinstimmend als nicht leistungsfördernd eingestuft werden. Marihuana-Opfer 1999 waren der Schwimmer Gary Hall jr., der als praktizierender Grateful-Dead- Fan eine natürliche Affinität zum Joint besitzt, seine cannabiskonsumierende Teamkollegin Suzanne Black und auch der deutsche Basketballer Jens-Uwe Gordon, der, marihuanaauffällig geworden, bei Unicaja Malaga vor die Tür gesetzt wurde. „Es soll verhindert werden, daß ein Kiffer Olympiasieger wird“, begründete das deutsche IOC-Mitglied Thomas Bach die Lex cannabis, und sein Kollege Dick Pound meinte: „Olympische Athleten haben eine Vorbildfunktion, deshalb muß an sie ein strengerer Maßstab angelegt werden als an andere Leute.“ Nun, inzwischen hat Mr. Pound andere Sorgen, vor allem, was die Maßstäbe für IOC- Mitglieder betrifft. Er leitet die Untersuchungskomission zur Bestechungsaffäre um Salt Lake City.

Ohnehin wirkte Samaranchs Feldzug gegen den blauen Dunst bald recht lächerlich angesichts dessen, was sich noch abspielen sollte in einem Jahr, das sogar das skandalträchtige 1988 mit dem Sündenfall des Weltsports, begangen durch Ben Johnson, in den Schatten stellte und sich in einen wahren Dopingrausch steigerte. So häufig öffnete sich die Pandorabüchse der sportmedizinischen Kleinkriminalität, daß man schon genau aufpassen mußte, damit einem nichts entging. Es lohnt sich daher, das Dopingjahr 1998 noch einmal Revue passieren zu lassen.

Alles begann in Perth, wo man den deutschen Teamchef Winfried Leopold nicht haben wollte, weil er früher Teil des Dopingsystems der DDR gewesen war. In der deutschen Delegation stieß die Ablehnung Leopolds auf großes Unverständnis. Olle Kamellen das, außerdem hatte der gute Mann doch längst alles zugegeben. Und dann wollten die Konkurrenten, allen voran die Australier, auch noch die Medaillen der DDR-Schwimmerinnen. „Unerträglich“ fand DSV- Präsident Tretow vor allem die „Rundumschläge“ des australischen Cheftrainers Talbot. Ein paar Wochen später durfte er sich damit trösten, daß ausgerechnet Talbots Schützling Richard Upton der Einnahme des Mittels Probenecid überführt wurde und drei Monate Sperre bekam.

Ohnehin war das Thema Leopold erledigt, als die chinesische Schwimmerin Yuan Yuan bei der Einreise nach Australien mit 13 Ampullen Wachstumshormonen beim Zoll hängenblieb und kurz danach vier Mitglieder ihres Teams der Einnahme von verbotenen Diuretika überführt wurden. Diese sperrte man später für zwei Jahre, Yuan für vier, in Perth aber zeigte nun alles mit dem Finger nach China, der Rest hatte Ruhe. Bis zum April, als es – endlich, wie die Konkurrenz meinte – Michelle Smith deBruin an den Kragen ging, der dreifachen Olympiasiegerin von Atlanta. „Too much alcohol“, hatte schon Rory Gallagher gewarnt, doch die Schwimmerin beherzigte die Warnung ihres musizierenden Landsmannes genauso wenig wie er selbst. Als eine überraschende Kontrolle bei ihr vorgenommen wurde, versetzte sie die Urinprobe zur Tarnung kurzerhand mit einem Schuß Whiskey oder was auch immer.

Die Irin erhielt für den schwer alkoholisierten Urin ebenfalls eine Sperre von vier Jahren, ihre Goldmedaillen darf sie jedoch genauso behalten wie, nach einem Beschluß des IOC vom Dezember, die Sportler und Sportlerinnen aus der DDR. Zwar hatten die Berliner Dopingprozesse, die mit Geldstrafen für Trainer und Mediziner wegen Körperverletzung an Minderjährigen endeten, das flächendeckende Dopingsystem der DDR dokumentiert, aber mit dem Einzelnachweis tat man sich schwer. Es wäre widersinnig, bemerkte Dick Pound völlig zu Recht, wenn man die Medaillen von Leuten, deren Dopingproben damals negativ waren, nun anderen gäbe, die womöglich nicht mal kontrolliert wurden. Und ob diejenigen, die heute als Betrogene auftreten, damals tatsächlich so sauber waren, wie sie behaupten, entzieht sich jeder Nachprüfung. Statt dessen, so das IOC, sollten die illegal erlangten Medaillen lieber dem Olympischen Museum gestiftet werden. Bereits im Sommer hatten einige DDR-Schwimmerinnen ihre Trophäen zurückgegeben.

Ab Juli sprach dann kaum noch jemand von der DDR, und auch die positiven B-Proben der US- Leichtathleten Dennis Mitchell (Testosteron) und Randy Barnes (Androstenedione) waren nur noch eine Randnotiz. (Mitchell wurde übrigens im Dezember vom US-Verband erstaunlicherweise freigesprochen.) Der Generalangriff der französischen Sportministerin Marie-George Buffet auf die Tour de France brachte ans Licht der Öffentlichkeit, was alle Beteiligten längst gewußt und stillschweigend geduldet hatten: den massiven Gebrauch unerlaubter Mittel im Radsport, vor allem den des Blutdopingmittels Epo, das Willy Voet, Masseur beim Festina- Team, in rauhen Mengen zum Startort Dublin transportierte, als ihn die Polizei zu fassen bekam. Das Vorgehen der französischen Behörden, welche die Radprofis auch im weiteren Verlauf der Tour nicht zur Ruhe kommen ließen und schließlich Proteste und den Ausstieg zahlreicher Fahrer provozierten, war gleichzeitig ein Armutszeugnis für die Sportverbände. Da die Analysetechnik der IOC-Labors auch wegen ungenügender finanzieller Ausstattung hinterherhinkt und die medizinische Betreuung der Sportler so fortgeschritten ist, daß die Einnahme verbotener Mittel perfekt gesteuert und verschleiert werden kann, hätten die Veranstalter mit großer Sicherheit ohne die Razzien der Polizei auch im letzten Jahr ihre Tour wieder als wunderbar reine und kerngesunde Sportveranstaltung bejubelt. Gleichzeitig wurden die Grenzen selbst staatlicher Intervention deutlich, denn auch in den polizeilichen Ermittlungen gab es große Schwierigkeiten, Radprofis wie etwa Festina-Fahrer Richard Virenque konkrete Vergehen nachzuweisen. Gesperrt wurden lediglich Profis wie Zülle, Brochard oder Dufaux, die im ersten Schreck Geständnisse abgelegt hatten.

Erschreckt hatte sich auch Juan Antonio Samaranch, der so verwirrt war, daß er plötzlich die Reduzierung der Verbotsliste und eine Art Freigabe von Doping forderte. Da mußte selbst Alexandre de Merode, Chef der medizinischen Kommission des IOC, schlucken und erklärte: „Die Leute, welche die Liste reduzieren wollen, sind die Leute, die wollen, daß Doping funktioniert.“ Schöner hätten es die größten Kritiker des IOC kaum sagen können. Samaranch fing sich bald wieder, rückte von seinen Äußerungen ab und berief für den Februar 1999 einen Dopinggipfel nach Lausanne ein, wo es für die Sportverbände darum gehen wird, die Kontrolle zu behalten und Kritiker wie den deutschen Langläufer Dieter Baumann in die Schranken zu weisen, die mehr staatliche Eingriffe fordern.

Mit dem Tour-Skandal war das Dopingjahr keineswegs beendet. Kaum hatte die Fifa frohlockt, daß alle 240 Dopingproben bei der Fußball-WM negativ waren, wunderte sich Zdenek Zeman, Trainer des AS Rom, öffentlich über die dicken Oberschenkel der Fußballer del Piero und Vialli. Die Untersuchungen förderten Dinge zutage, die sich niemand hatte träumen lassen und die schließlich zum Rücktritt des NOK-Präsidenten Mario Pescante führten.

Was hatte die Welt gelacht über die Verschwörungstheorien des Diego Maradona, als er 1991 wegen Kokaingebrauchs 15 Monate gesperrt wurde. Abgesehen von der offenkundigen Unsinnigkeit, einen Kokainsüchtigen wegen Kokainkonsums mit einer derart langen sportlichen Sperre zu belegen, sieht es inzwischen so aus, als habe der Argentinier mit seiner Behauptung, man habe ihn gezielt hereingelegt, vollkommen richtig gelegen. Die Ermittlungen ergaben, daß Proben von Fußballspielern im Dopingkontrollabor Acqua Acetosa gar nicht untersucht oder ihre Ergebnisse unterdrückt wurden – außer bei der von Maradona. Das Labor wurde nach Bekanntwerden dieser und zahlloser anderer Mißstände geschlossen. Besonders pikant, daß die Kokainsperre die Grundlage dafür war, daß Maradona derart schnell ausgeschlossen und gesperrt wurde, als bei der WM 1994 in den USA Ephedrin in seinem Urin gefunden wurde. Sein Leibarzt hatte in einem Drugstore einen Appetitzügler gekauft, der die Substanz enthalten hatte, doch dem vermeintlichen Wiederholungstäter wurden nicht jene mildernden Umstände zugute gehalten wie anderen Sportlern, die „unverschuldet“ gedopt waren. Der Bochumer Torhüter Thomas Ernst etwa, der beim Spiel in Kaiserslautern ein ephedrinhaltiges Mittel vom Mannschaftsarzt erhalten hatte, oder der tschechische Tennisspieler Petr Korda, der in Wimbledon mit dem anabolen Steroid Nandrolon gedopt war und nur eine Geldstrafe bekam, weil er nach Meinung des Tennisverbandes von nichts gewußt hatte.

Während man in den USA aufgeregt über den Baseball-Heroen Mark McGwire und sein in den meisten Sportarten verbotenes Kraftfutter Androstenedione diskutierte, blieb auch das neue Deutschland nicht verschont von Dopingskandalen. Die Marathonläuferin Uta Pippig wies bei einer Trainingskontrolle einen weit überhöhten Testosteronwert auf, den sie mit der Absetzung der Pille zu begründen suchte. „Denkbar unwahrscheinlich“, befand nicht nur der Sportmediziner Wildor Hollmann. Für Aufsehen sorgte auch Damian Kallabis, der in Budapest überraschend Europameister über 3.000 m Hindernis wurde und später beim Weltcup im hochgelegenen Johannesburg der Konkurrenz so hurtig davondüste, wie es nach Meinung vieler Experten ohne Höhentraining nicht möglich ist. Epo, mutmaßten einige, ein Verdacht, der durch die Mitteilung des DLV-Arztes Karlheinz Graff Nahrung erhielt, daß zwei Athleten in Budapest nach dem Mittel HES gefragt hätten. Tatsächlich räumten Kallabis und sein Trainer Stephane Franke ein, den nicht auf der Dopingliste stehenden Blutplasmaexpander genommen zu haben, angeblich jedoch nicht, um Epo zu verschleiern, wie von Graff vermutet worden war.

Der Sportarzt mußte herbe Vorwürfe einstecken. Wie schwierig es ist, auf Doping hinzuweisen, erfuhren auch die Schwimmer Chris-Carol Bremer und Mark Warnecke. Diese bekamen erst mal vom Verband eins übergebraten, weil sie angeprangert hatten, daß im Schwimmsport weiter massiv gedopt werde, und auch Franziska van Almsick schimpfte stellvertretend für viele Athleten: „Man kann nicht behaupten, daß gedopt wird, ohne dann zu sagen, wer gemeint ist.“ Das alte Lied. Wer etwas sagt, muß auspacken und Beweise bringen, was nahezu unmöglich ist; wer niemanden konkret anschwärzen will, hat den Mund zu halten. Auf diese Weise funktionierte auch im Radsport das Dopingsystem lange reibungslos. Man denke nur an den Entrüstungssturm, der über den Schweizer Pascal Richard hereinbrach, als er wagte, das Telekom-Team zu bezichtigen. Oder im Skisport an den Schweizer Trainer Theo Nadig, der erklärte, „allein mit Pasta und Müsli“ könne man solche Muskeln, wie sie Österreichs Pistenheld Hermann Maier habe, nicht produzieren. Nadig schade „dem gesamten internationalen Skisport“, wetterte Maiers Alpinchef Hans Pum. Es paßt zum Jahr des Dopings, daß der Fall Korda schließlich auch den Tennissport ins Zwielicht brachte, dessen Verband sich, ebenso wie Fifa und Radsportverband, weigert, ein Doping-Agreement zu akzeptieren, das u. a. zwei Jahre Sperre für Ersttäter vorsieht. Zum starken Mann in dieser Frage schwang sich ausgerechnet Leichtathletikpräsident Primo Nebiolo auf, der forderte, derartige Verbände von Olympischen Spielen auszuschließen. Doch da schritt sofort der Chef persönlich ein. Es sei nicht IOC- Politik, Verbänden mit Sanktionen zu drohen, wiegelte Samaranch ab. Und gäbe es eine Neujahrsansprache des IOC-Präsidenten, dann hätte dieser sicher allseits „gute Arbeit“ bescheinigt. Ganz so, als sei das Sportjahr schon im Februar in Nagano zu Ende gegangen.

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