Leben in Peć – eine tägliche Demütigung

In der zweitgrößten Stadt des Kosovo benimmt sich die Polizei seit der Ermordung von sechs serbischen Jugendlichen wie eine Besatzungsmacht: Hausdurchsuchungen, willkürliche Festnahmen, Gängelung albanischer Händler  ■ Aus Peć Thomas Schmid

Der Marktplatz im Zentrum der Altstadt von Peć ist einer der malerischsten Orte des Kosovo. Es herrscht eine orientalische Atmosphäre, der Duft des schweren süßen Kaffees vermischt sich mit dem von gebratenem Lammfleisch. Der Markt ist fest in albanischer Hand. Mitten auf dem großen von altem Gemäuer umgebenen Platz stehen Pferde. Ihren Nüstern entsteigen Dampfwolken. Es ist eisig kalt. Die betuchteren Händler haben einen Laden am Platz oder in einer der acht Gassen, die auf ihn zuführen. Die ärmeren sind in dicke Steppjacken gehüllt und stellen ihr Angebot auf einen Holztisch im Freien und bezahlen dafür dem Staat 10 Dinar pro Tag. Das sind zwar nur 1,50 Mark, aber über den Monat gerechnet sind es 250 Dinar – und das ist hier immerhin ein Wochenlohn.

Goni ist einer von ihnen. Jeden Tag steht der 25jährige hinter seinem Tischchen, auf dem Parfüms, Cremes, Seifen, Shampoos und andere Toilettenartikel liegen. Vergangene Woche habe er mindestens den Lohn eines Monats verloren, sagt er. Da kamen serbische Polizisten, einige in Zivil, rafften überall auf dem Platz die Auslagen zusammen und verprügelten die Verkäufer. Das ist zwar in Peć nicht an der Tagesordnung, aber auch nicht ungewöhnlich. Es komme immer wieder vor, bestätigen die Markthändler. „Oft müssen wir dann unsere eigenen Waren in den staatlichen Läden kaufen“, behauptet Goni.

Auch gestern war die Polizei wieder zu Besuch. Doch lief es relativ glimpflich ab. Die Polizisten plünderten nicht und prügelten kaum. Sie stießen nur alle Holztische um und verzogen sich wieder. So hielt sich der Schaden in Grenzen, außer bei Beni, der Eier verkauft. Mindestens achthundert habe er verloren, behauptet er. Vor seinem Holztisch ist ein großer gelber klebriger Fleck. Im Schnee liegen zerstampfte Eierpappkartons.

Im kleinen Imbiß am Marktplatz sitzen zwei Polizisten in ihrer lila Uniform, verspeisen Burek, ein mit Käse oder Fleisch gefülltes heißes Blätterteiggebäck, und trinken Joghurt. Sie wischen sich mit dem Ärmel die Krümel von den Lippen, stehen auf und verlassen das Lokal, ohne auch nur zu grüßen. Bezahlt haben sie nicht. Die serbische Polizei benimmt sich in Peć wie eine Besatzungsmacht in einem fremden Land.

Für die Albaner ist es eine tägliche Demütigung. Sie wehren sich nicht, weil dies nur Prügel setzen würde. Sie erstatten keine Anzeige, weil die Polizei in eigener Sache ermitteln müßte und die Richter ohnehin alle Serben sind. Und das geht nun schon seit zehn Jahren so, seit der heutige jugoslawische Präsident Slobodan Milošević die Autonomie der Kosovo-Albaner abgeschafft hat, seit Mikel Marku, der Präsident der Anwaltskammer von Peć erschossen wurde, seit der Hodscha gezwungen wurde, eine albanische Zeitung aufzuessen.

Die UCK-Guerilla hat in dieser Situtation den Albanern zweifellos einen Teil ihrer verlorenen Würde zurückgegeben. „Nun haben sie vor uns Angst“, sagt Remzi, der Konfektionswaren verkauft. „Sie wissen, daß sie letztlich verlieren werden.“ Das Schaufenster seines Ladens weist ein Loch auf – so groß, daß eine Patrone hindurchpaßt. Remzis Sohn wurde zum Jahresende drei Stunden verhört und, wie es nun mal üblich ist, dabei auch verprügelt. Sein Vergehen: Er hatte albanischsprachige Zeitungen verkauft, denen zum Jahresende auf Hochglanzpapier ein UCK-Kalender beigelegt war.

Auch Tahir Dema wurde schon zweimal verprügelt. Beim letzten Mal, im Juli, wurden dem Vorsitzenden der örtlichen Sektion der Menschenrechtskommission sogar zwei Rippen gebrochen. Er mußte für einige Wochen in eine „Klinik“. Er ging nicht ins serbische Krankenhaus, das die Albaner nur im äußersten Notfall aufsuchen, sondern in eine der in Garagen oder Wohnzimmern versteckten privaten Krankenstationen. Dema bestätigt die Vorkommnisse auf dem Marktplatz. Am vergangenen Mittwoch seien sogar OSZE-Beobachter Zeugen des polizeilichen Rowdytums geworden. „Die haben sich gewundert.“

65 Tote habe es in der Kommune Peć, zu der die Stadt und etwa 70 Dörfern gehören, seit Kriegsbeginn im vergangenen Februar gegeben, sagt Ymer Muhaxheri, der örtliche Vorsitzende der LDK, der Partei des international nicht anerkannten Präsidenten des Kosovo, Ibrahim Rugova. Nicht von Opfern militärischer Auseinandersetzungen spricht er, sondern ausschließlich von zivilen Opfern serbischer Repression. Der jüngste Fall: Am 29. Dezember wurde der 45jährige Hasan Idrizaj wenige Kilometer außerhalb von Peć am Straßenrand erschossen aufgefunden. Er hatte sich am Vortag auf den Weg nach Decani gemacht, um seinen Personalausweis abzuholen. Viele der Toten, sagt Muhaxheri, seien Aktivisten seiner Partei gewesen.

Peć, die zweitgrößte Stadt des Kosovo, wo die Serben etwa 20 Prozent der Bevölkerung stellen, war schon seit einem Jahrzehnt eine Hochburg der Repression. Während des Krieges im vergangenen Sommer wurde alles noch schlimmer. Ein ganzes Stadtviertel, das nahe der Front lag, wurde polizeilich geräumt – aus strategischen Gründen: 13.000 Albaner mußten aus Dardania flüchten, weil die Serben ein Einsickern der Guerilla befürchteten. Das Dörfchen Lodja, eine UCK-Hochburg am Stadtrand, wurde nach der Vertreibung der Guerilla völlig zerstört.

Heute ist es gesperrt. Aber nach dem Waffenstillstand vom Oktober wurde es auch in Peć etwas ruhiger. Doch seit dem 14. Dezember, sagen Dema und Muhaxheri übereinstimmend, seien wieder die alten Zeiten zurückgekehrt: Hausdurchsuchungen, willkürliche Festnahmen, Prügeleien, Tote. Allein in den letzten zwei Wochen wurden drei Männer erschossen aufgefunden.

Am 14. Dezember waren im Kaffeehaus „Panda“ am Stadtrand von Peć sechs junge Serben niedergeschossen worden. Vier starben sofort, zwei später im Krankenhaus. Von offizieller Seite wurde der Mord sofort der albanischen Guerilla angelastet. Zehn Tage zuvor war Mekete Maksutas, eine UCK-Kämpferin mit vier Handgranaten am Gürtel, im Krankenhaus der Stadt erschossen worden. Wollte sie einen verletzten Kampfgenossen befreien oder ihn – wie von anderer Seite gemutmaßt wird – für immer am Reden hindern? War der sechsfache Mord im Kaffeehaus die Rache für den Tod von Mekete Maksutas?

Auch ein ausländischer Beobachter, der mit der Polizei ungefähr eine Dreiviertelstunde nach dem Geschehen am Tatort eintraf, vermutete zunächst eine albanische Täterschaft. Auf dem Boden des Raums wurden kupferfarbene Patronenhülsen gefunden, was auf Munition chinesischer Fabrikation schließen läßt, wie sie vor allem die UCK verwendet, die ihre Waffen zum großen Teil aus Albanien eingeschmuggelt hat. In Albanien waren 1997 so gut wie sämtliche Waffenbestände, vor allem Kalaschnikows aus der Periode der chinesisch-albanischen Freundschaft, von der Bevölkerung geplündert worden. Die jugoslawischen Patronenhülsen sind messingfarben. Doch inzwischen ist der Ausländer recht skeptisch geworden.

Die UCK lehnte jede Verantwortung für den Mord ab. Zwar kann man eine albanische Täterschaft nicht gänzlich ausschließen, zumal die Guerilla auch schon serbische Zivilisten entführt und albanische „Kollaborateure“ erschossen hat. Doch es ist unwahrscheinlich, daß die UCK wahllos serbische Jugendliche erschießt. Mindestens so unwahrscheinlich allerdings ist auch, daß die serbische Polizei die mörderische Aktion durchführte, um die albanische Guerilla zu diskreditieren, wie viele Albaner behaupten. Vermutlich handelte es sich um eine Abrechnung unter serbischen Gangs. Eines der Todesopfer vom 14. Dezember hat, so bestätigen zwei Quellen, einen Monat zuvor ein serbisches Mädchen umgebracht. Die Polizei hat im vergangenen Jahr an viele Serben Waffen ausgegeben.

Das Kaffeehaus „Panda“ ist geschlossen. Sein Besitzer, ein nicht- albanischer Muslim, soll bei dem Überfall nur leicht verwundet worden sein. Er wurde sofort nach Belgrad ins Krankenhaus gebracht, während sonst auch schwer verletzte Personen in Peć oder im nur eine Autostunde entfernten Priština behandelt werden. Sollte er aus dem Verkehr gezogen werden? Einige Leute sagen, es würde sie nicht wundern, wenn er in Belgrad plötzlich verstirbt. Seine Mutter, gerade zurück von einem Besuch im Krankenhaus in Belgrad, will keiner Nationalität die Schuld zuschieben, sondern nur noch vom Ort des Verbrechens wegziehen. „Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie bei der OSZE oder einer internationalen Hilfsorganisation jemanden kennen, der das Haus will“, bittet sie zum Abschied.

Peć ist den Serben heilig. Hier steht die Patriarchie, ein einzigartiger Komplex von Klostergebäuden, drei ineinander verschachtelten Kirchen und eine Kapelle, deren ältester Teil über 750 Jahre alt ist. Jahrhunderte lang war Peć das Zentrum der serbischen Orthodoxie und damit eines der wichtigsten Zentren serbischer Kultur. Zwar hat der Patriarch seit 1939 seinen Amtssitz in Belgrad, ist der Kopf der Kirche heute in der Hauptstadt. Ihr Herz aber schlägt weiterhin hier am Stadtrand von Peć. Von hier aus führte im Jahre 1690 der Patriarch Arsen Crnojević, das Kreuz vor sich hertragend, seine Gläubigen, die Rachefeldzügen der Türken ausgesetzt waren, in die ferne, damals noch unter österreichischer Herrschaft stehende Wojwodina. Weit über hunderttausend sollen ihm gefolgt sein. In zahlreichen Gemälden wurde der große Exodus der Serben aus dem Kosovo verewigt.

Diese Geschichte kennt in Peć jeder Serbe, und oft schon schworen serbische Politiker, daß der Kosovo für immer serbisch bleiben müsse, um den Serben einen zweiten Exodus zu ersparen. Mit der Religion aber haben Misha, Zlavko und Rajko, die sich jeden Abend in einem der serbischen Cafés im Zentrum treffen – die albanischen sind geschlossen, sobald die Dunkelheit hereinbricht – so wenig am Hut wie ihre Altersgenossen in anderen Ländern. Sie kannten einige der Todesopfer vom Kaffeehaus. Über den Mord vom 14. Dezember aber wollen sie nicht reden. Schon gar nicht mit einem ausländischen Journalisten. „Sie verbreiten doch nur Lügen über uns Serben“, sagt Misha abwehrend, „und sie steigen immer im einzigen albanischen Hotel der Stadt ab, obwohl es drei serbische gibt.“ Daß sie über kurz oder lang aus dem Kosovo verschwinden müssen, wenn die Provinz wieder autonom oder gar unabhängig würde, darüber machen sich die drei Männer keinerlei Illusionen.