„Die lassen ordentlich die Puppen tanzen“

■ Der Elternkreis eßgestörter Töchter und Söhne bietet Hilfen für Eltern an /Interview mit Gründerin Heidemarie Gniesmer

Die fühlen sich Eltern, wenn Tochter oder Sohn plötzlich eßgestört werden? In Bremen existiert seit fast acht Jahren ein Elternkreis für eßgestörte Töchter und Söhne. Die 58jährige Lehrerin Heidemarie Gniesmer hat die Gruppe damals aus der Taufe gehoben – als ihre Tochter mit 17 Jahren magersüchtig wurde. Wir sprachen mit ihr über elterliche Gefühle und wie man damit umgehen kann.

taz: Woran haben Sie gemerkt, daß Ihre Tochter ein Problem hat?

Heidemarie Gniesmer: Das war als als ihre Schwester ihren 20ten Geburtstag ganz großartig feierte. Das war eine Superparty, aber meine Tochter ist an diesem Abend einfach weggerannt. Mein Mann hat sie dann abends um 23 Uhr noch von der Sportanlage weggeholt, weil sie dort unentwegt eine Runde nach der anderen lief. Am nächsten Tag hat sie uns ganz füchterlich beschimpft. Man merkte, daß sie vor Eifersucht platzte – wohl weil ihre Schwester so einen großen Freundeskreis und einen netten Freund hatte und sie sich nicht wahrgenommen fühlte. Danach fing sie auf einmal eine Diät an.

Warum, meinen Sie, hat Ihre Tochter damit angefangen?

Sie suchte wohl nach Möglichkeiten, sich wohler zu fühlen. Das mit dem Abnehmen ging dann aber vom Sommer bis Weihnachten weiter. Ich dachte erst, das sei nur so eine Phase. Aber sie nahm immer weiter tüchtig ab. Deshalb kaufte ich im Frühjahr ein Buch über Magersucht und konnte da alles nachlesen, was sich zuhause abspielte. Ich habe sie dann im Badezimmer gesehen – und da war sie nur noch ein Gerippe.

Und haben Sie nichts getan?

Ich habe immer zu ihr gesagt: Jetzt ist Schluß, jetzt hörst du damit auf. Aber es passierte nichts. Da war das Hungern schon zur Sucht geworden. Sie lebte nur noch in ihrer Hungerwelt und hatte alle Schotten zugemacht: Da können sie schreien, betteln, toben, versprechen, sie erreichen sie nicht mehr.

Und was dann?

Ich habe sie dann zum Arzt geschubst. Der Neurologe sagte dann das, was ich eigentlich eh schon wußte: Daß meine Tochter schwer krank ist und Magersucht hat. Dann haben wir ihr gesagt: Sie soll eine Therapie machen. Aber das wollte sie nicht. Als sie schließlich doch einwilligte, hat es nicht geklappt: Sie hat bei der Therapeutin einfach nichts gesagt.

Wie fühlten Sie sich da?

Es war wie eine Niederlage, daß ich mein Kind mit Worten und Taten nicht erreichen konnte. Ich habe dann eine Kur beantragt, weil es mir so schlecht ging. Die Frage „Was hast du falsch gemacht?“ hat mich um den Schlaf gebracht. Ich habe dann geschaut, wo für mich der Weg als Mutter lang gehen kann. Die Kur hat mir den Blick geöffnet, daß es viele Faktoren gibt, warum meine Tochter magersüchtig geworden ist. Gesellschaftliche wie der Schlankheitswahn und familiäre. Wir waren sehr liberale Eltern – wir haben nicht so Grenzen gezogen und viele Rücksichten genommen. Es war alles da: Geld, Wohnen und schöne Reisen.

Was haben Sie mit dieser Erkenntnis gemacht?

Ich habe erstmal gewußt: Ich darf nicht immer nur auf das Kind starren, sondern muß zuerst mal auch bei mir gucken. Mein Mann und ich haben über ein Jahr lang Gruppen besucht und neues Verhalten eingeübt. Plötzlich verändert man was, ist nicht mehr die gute Mutter mit dem Heiligenschein, die immer für alles gesorgt hat, sondern du sagst zu deiner Tochter: Ich mache das jetzt nicht mehr mit, Du bist jetzt eine erwachsene Frau und wenn Du so leben willst, dann ziehst Du bitte aus und zwar ganz schnell. Dabei helfen wir Dir noch und dann sieh zu, daß Du Dein Leben selber in die Hand nimmst.

Das hört sich hart an.

Ja, aber es gibt eben die sogenannte Co-Abhängigkeit: Eine Tochter mit Eßstörungen bekommt eine dermaßene Macht in der Familie und läßt die Puppen tanzen. Unsere Tochter hatte die ganze Herrschaft über die Lebensmittel. Das war Terror, der da ablief. Da kann eine magersüchtige Tochter sogar einen Vater, der eigentlich Manager in einem Großunternehmen ist, ganz schön in die Knie zwingen. Im vorigen Jahr hat sich ein Vater aus unserem Elternkreis das Leben genommen – vor lauter Verzweiflung. Wir haben ganz verzweifelte Eltern hier sitzen, die fragen: Wie kann ich meinem Kind helfen?

Und man hilft lieber nicht zuviel?

Nein, wir sprechen durch, was die Eltern tun können. Zum Beispiel, ob sie die Tochter künftig zur Schule fahren, weil sie zu schwach ist.

Und was sagen Sie da?

Nein: Sie muß doch merken, daß sie mit ihrem Körper an der Grabeskante steht. Das sind so Tips, die wir geben. Die Eltern müssen zunächst den Blick auf ihre eigene Befindlichkeit lenken. Nur reine Ursachensuche kann da nicht weiterführen.

Wieso nicht?

Wenn wir immerzu überlegen, was wir früher falsch gemacht haben, bringt das überhaupt nichts. Das ist schon alles passiert, wir können da nichts zurückdrehen. Wenn ich zum Beispiel keine starke Mutter gewesen wäre, wäre meine Tochter vielleicht nie magersüchtig geworden. So habe ich doch immer alles geregelt, immer die passenden Lösungsvorschläge gehabt, so daß meine Tochter kaum die Gelegenheit hatte, selbst mal was in die Hand zu nehmen. Ich hätte sie viel eher mal auflaufen lassen müssen.

Was hat sie hauptsächlich aus der Krise geführt?

Daß wir nichts gemacht haben, was unsere Tochter nicht auch alleine machen konnte, daß wir uns zurückgenommen haben. Meine Tochter war zweimal in Therapie, aber das hat nichts gebracht. Sie hat dann aber die Schule abgebrochen und eine Maßnahme beim Arbeitsamt angefangen und eine ganz praktische Ausbildung gemacht: „Die Arbeit hat mich gesund gemacht“, hat sie dann gesagt. Und das glaube ich auch: Dieses Verkopfte, das ist auch alles nicht so gut. Die Frauen müssen wieder Bodenhaftung bekommen. Danach hat sie ihr Fachabitur nachgeholt und studiert jetzt, ist fröhlich und hat einen Freundeskreis.

Und wie geht es Ihnen?

Also mir hat die Eßstörung eigentlich viel gebracht, weil ich mich um mich selbst gekümmert und Ressourcen geweckt habe. Das konnte ich vorher gar nicht, weil ich immer so wahnsinnig für die Familie geackert habe.

Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Tochter jetzt?

Ich finde es prima, wie sie ihr Leben meistert, wir sehen uns nicht oft und telefonieren einmal die Woche. Das ist dann meist sachlich, aber freundlich. Sie regelt und meistert ihr Leben jetzt und wir unsers und das ist auch angemessen: Sie ist jetzt 25 Jahre alt, und da möchte ich auch kein kleines Mädchen mehr hier haben. Ich bin stolz und glücklich eine Tochter zu haben, die ihren eigenen Weg geht.

Fragen: Katja Ubben

Der Elternkreis ist Selbsthilfegruppe und Beratungsstelle zugleich. Dort gibt es auch Infos über Therapiemöglichkeiten unter Tel.: 58 39 34 oder 6 36 77 88.